Anfang der neunziger Jahre stand Europa vor einer seiner größten politischen Herausforderungen, als der Vielvölkerstaat auf dem Balkan zerfiel und sich auf der "Multikulti"-Oase ein bis dahin nicht vorstellbarer Krieg entzündete. Der von den Europäern für "irrational" erklärte blutige Konflikt, mit Bosnien als dramatischstem Zentrum, war vor allem deshalb so aufstörend, weil das "alte" Europa, allen ethnischen und religiösen Erklärungsmustern zum Trotz, spürte, dass hier nicht eine verspätete Reaktion auf historische Probleme am Werke war, sondern ein "reitender Bote" auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen auf dem Kontinent voraus wies. Jugoslawien, hatte der Balkan-Korrespondent Norbert Mappes-Niedik in seinem aufschlussreichen Buch Die Ethno-Falle einmal vermerkt, sei so etwas wie der "Minenhund" des künftigen Europas.
Auf diese Spur führt auch der zweite Roman des in Sarajewo geborenen Igor Stiks Die Archive der Nacht. Er verflicht die persönliche Wahrheitssuche des etablierten Schriftstellers Richard Richter mit der vielschichtigen Wahrheit des Krieges und durchspielt die alte Frage nach der "Regie" des Schicksals, nach dem Zufall menschlichen Seins.
Purer Zufall ist es, dass Richter, nach einer gescheiterten Ehe von Paris in seine Geburtsstadt Wien zurückgekehrt, in einem Wandversteck ein altes Heft seiner verstorbenen Mutter Paula findet, das sein Wissen um seine Herkunft und Identität von Grund auf erschüttert. Der Brief, kurz vor Richters Geburt an einen gewissen Jakob Schneider gerichtet, lässt keinen Zweifel daran, dass Richter väterlicherseits jüdischer Abstammung ist und dieser Vater, ein aus Sarajewo stammender, im Untergrund agierender Kommunist, 1941 in Wien von der Gestapo verhaftet worden ist. Über dessen weiteres Schicksal ist nichts bekannt, die Auskünfte der Tante, die das verwaiste Kind aufzog, sind spärlich, der Vater sei "bestimmt" erschossen worden.
Das "gärende Geheimnis" lässt Richter keine Ruhe, sein beschauliches, "reifes" Dasein, das er in Wien hatte führen wollen, findet ein jähes Ende: "Die Schlange war erwacht. Ich war auf ihre Brut gefallen". Der 50-Jährige akkreditiert sich als Journalist und begibt sich "embedded" in einen Krieg, den er bislang kaum zur Kenntnis genommen hat. Im April 1992 trifft er im belagerten Sarajewo ein. Seine private Mission, die Vatersuche, behält er für sich. Er arbeitet zunächst als Berichterstatter, lernt aber die westliche Sicht auf den Krieg, vor allem durch die Begegnung mit dem viel jüngeren Ivor und später mit Alma, immer kritischer zu beurteilen. "In der Sprache der Medien war es erst ein ethnischer, dann ein religiöser" Konflikt und als "Ererbter" ganz und gar "unausrottbar." Je mehr Richter über die Stadt erfährt, desto mehr distanziert er sich von dieser Arbeit, die Journalisten zu gut bezahlten "Zeugen und Mittätern einer Tragödie" macht.
Ivor, das nur flüchtig maskierte alter Ego des Autors, ist Richters Übersetzer und hat eigene literarische Ambitionen. Er plant mit dem neuen Freund einen Film über die verborgene, trotz des Krieges lebhafte Theaterszene der Stadt, der auch die Schauspielerin Alma angehört. Richter verliebt sich in die junge Frau, ohne etwas über ihre Herkunft zu wissen. Fünf Tage sind ihrer Liebe bestimmt, bis es zur Katastrophe kommt. Gleich Walter Faber, dem Homo Faber in Max Frischs gleichnamigem Roman, der in Sarajewo dramatisiert zur Aufführung kommt, entgleiten Richter immer mehr die Fäden seines Schicksals. Als moderner Ödipus irrt er durch die kriegsversehrte, gefahrvolle Stadt auf einer Vatersuche, die ihn in eine seelische Odyssee stürzt. Am Ende bleibt ihm nur die Flucht zurück nach Wien.
Von dort aus, im Rückblick und aus der Perspektive der vollendeten, unumkehrbaren furchtbaren Ereignisse, erzählt Richter die Geschichte, seine eigene und die seiner Eltern. Anonym und eingebunkert in ein Hotelzimmer, ist sie aufzuschreiben die letzte dringende Handlung, bevor er, mit Schuld beladen, selbst Hand an sich legt. Das Menetekel, das über seinem Schicksal und dem Sarajewos liegt, ist deshalb ständig präsent in Form von vorausdeutenden Fragen, Hinweisen, "dräuenden" Orakel: "Wer hat die verfluchten Fäden gezogen?" Das quälende "wenn ich gewusst hätte ..." begleitet Richters verstörte Aufzeichnungen ebenso wie die Ahnung, "über jeden Teil" seiner Geschichte bestimmt zu haben: "Hatte nicht meine eigene Hand nach dem Notizbuch meiner Mutter gegriffen und Almas Körper berührt? Hatte ich nicht den Mahlstein der Geschichte jedes mal wieder in Fahrt gebracht, wenn er von sich aus zur Ruhe gekommen war?" Um sich, Spannung gebietend, gleich wieder zur Ordnung zu rufen und "die Geschichte zu hindern, zu früh aus mir hervorzubrechen".
Wie sein Gewährsmann Frisch in seinem berühmten Stück Biografie: Ein Spiel reizt auch Stiks die Möglichkeiten der Theatermetapher aus: Auf der historischen Bühne Sarajewos wird nicht nur europäische Geschichte gespielt und das private Drama des Richard Richters verhandelt, sondern es ist auch das Theater selbst, das Geschichte macht, die Theaterbesucher sind die "Botschaft", "Akt des Widerstands": "Das Theater ließ sie Teil von etwas sein, das über diesem Leben stand, zu dem sie gezwungen waren." Noch wähnen sich Sarajewo (und Richter) in der Lage, die Fäden des Schicksals in der Hand zu halten, die Sache eigenständig zu Ende zu führen". Dabei sind "die Tage gezählt. Die Schlinge zieht sich zu", für die Stadt und für die Protagonisten der Geschichte. Im Unterschied zu letzteren, das ist Stiks Botschaft, ist es jedoch nur "die Stadt, die überleben wird."
Eingeflochten in das ohnehin schon komplizierte Arrangement hat Stiks mehrere Binnenerzählungen, die selbst wieder wie ein Kommentar auf die Ereignisse zu lesen sind. Wenn Richter in Simon seinen "Richter" trifft oder Alma und Richard in Form erdachter Geschichte die Möglichkeiten ihrer eigenen Liebe austesten, ist das der überbordenden, ironisch grundierten und manchmal verspielten Fabulierlust des gerade einmal 30-Jährigen anzurechnen; auf dem Schwarzmarkt von Sarajewo taucht sogar das Buch eines verblichenen Edmund Stix, Experte für das Bauwesen in Bosnien des 19. Jahrhunderts, auf.
Dass Stiks (oder der Übersetzerin) dabei gelegentlich auch sprachliche Klischees unterlaufen - wenn etwa verschiedene Figuren immer wieder eine "Gänsehaut" überkommt - oder das Personal monologisch allzu viel wissenswerte Stadtgeschichte bewältigen muss, lässt sich verschmerzen angesichts der Präzision, Rasanz und Gedankenschärfe dieses ganz außergewöhnlichen Romans. Der Vorwurf seiner kroatischen Landsleute, warum er sich für seine Hauptfigur gerade eine jüdische Biografie ausgesucht habe, wo es doch genügend heimische Helden gäbe, verkennt dabei genau das Problem, das Stiks skandalisiert, das Unglück von nationalen Identitäten. "Genügte es nicht", schreibt Richter, "einfach nur einen Namen zu haben und sich selbst anzugehören?"
Am Ende fehlt allen Figuren ein Mosaikstückchen für die ganze Wahrheit, denn im Unterschied zu Frischs Stück sind die Spielleiter zu sehr in ihre Geschichte involviert. Die Wahrheit zu ergründen, bleibt der Literatur, respektive Ivor, der Richters Manuskript hütet, vorbehalten. Im Epilog lüftet er auch das Geheimnis, wer Jakob Schneider an die Gestapo verraten hat. So spielt er als "reitender Bote" die "letzte Rolle", die ihm der Freund zugeeignet hat, wenn alle Zeugen tot sind. Er entscheidet, was die Welt von Richard Richter wissen wird. Ein moralisches Urteil steht ihm als Chronist nicht zu.
Igor Stiks Die Archive der Nacht. Aus dem Kroatischen von Marica Bodrozic´. Claassen, Berlin 2008, 376 S., 19,90 EUR
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