Wer in den letzten Tagen Politikerrunden zum G 8-Gipfel verfolgte, wurde Zeuge einer eifernden Debatte über einen gewalttätigen "schwarzen Block", der den "friedlichen" Widerstand als operatives Rückzugsgebiet missbraucht habe. Den aus Sicht der etablierten Politik rechtmäßig Demonstrierenden sei es dagegen nicht gelungen, sich konsequent von den Randalierern abzusetzen, sie aus ihrer Mitte zu verbannen und als "Abfall" der G 8-Bewegung zu isolieren. Dadurch, so weiter, sei der gesamte friedliche Widerstand beschmutzt und in seinen guten Absichten bedroht worden.
Dass gegen den Mob, den sozialen "Schmutz" auf der Straße, nur ein Großreiniger namens Kärcher hilft, hat uns der ehemalige französische Innenminister schon vor Jahresfrist übermittelt. Was sich da an den Rändern breit macht, so die Botschaft, gefährdet den gesellschaftlichen Körper, der sich mittels Abgrenzungs- und Bestrafungsritualen gegen die Infiltration wehren muss - so wie sich jeder Körper gegen Schmutz und den Einfall von Krankheitserregern wehrt.
Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auf ein Werk der im Mai verstorbenen englischen Ethnologin und Soziologin Mary Douglas hinzuweisen, die schon vor vierzig Jahren auf die offenbar weltumspannend auftretende Analogie von Organismus und sozialem System aufmerksam gemacht hat. In Reinheit und Gefährdung (Purity and Danger, 1966) untersucht Douglas aus ethnologischer Perspektive die profanen und sakralen Reinigungsrituale, die sie als zunächst "positive Anstrengung" interpretiert, die Umwelt zu organisieren, Erfahrungen zu systematisieren und nutzbar zu machen.
Die Vorstellung von "Schmutz" setzt voraus, dass es geordnete Beziehungen gibt, die durch "Unsauberes" in ihrem Bestand bedroht werden können und deshalb um ihrer Erhaltung willen bestrebt sind, Abfall zu eliminieren. Insofern ist jeder einzelne Körper grundsätzlich schon immer Quelle der Gefahr, weil er notwendig Schmutz produziert. Deshalb bemüht sich die menschliche Spezies, Rituale zu schaffen, um Vollständigkeit und Vollkommenheit herzustellen. Hygieneregeln erleichtern den Umgang mit den Abfallprodukten des Körpers; religiöse Rituale schaffen Heiligkeit. "Die Heiligkeitsvorstellung fand ihren äußersten Ausdruck in der Vollständigkeit des Körpers, den man als makellosen Behälter verstand." Vom morgendlichen Zähneputzen bis zum abendlichen Gebet unterstützen Rituale diese fortwährende Abgrenzungs- und Trennungsleistung.
Doch die dabei hergestellten Strukturen sind nicht unverletzlich, von den Grenzbereichen droht Gefahr: profaner Schmutz, Gedanken"schmutz", soziale Unordnung, die in die ungeordneten Bereiche des Körpers, des Geistes oder der Gesellschaft eindringen: ein neuer, nicht identifizierbarer Virus, eine die bürgerlichen Vorstellungen brüskierende Idee (sagen wir: Grundeinkommen ohne Arbeitsleistung) oder eben Demonstranten, die sich unter den von der Politik eingemeindeten Demonstrationskörper mischen.
Wichtig ist, dass das, was als "Schmutz" und "Gefahr" identifiziert wird, nichts Äußerliches ist, sondern dem System selbst entspringt. Das ist im Falle des Körpers unmittelbar einsichtig (wobei Frauen offenbar in allen Gesellschaften als das "unvollkommenere" Gefäß galten), in gesellschaftlichen Zusammenhängen besteht die Neigung, Unreines als Fremdkörper zu identifizieren und als nicht Dazugehöriges auszugrenzen, scharfe Trennungslinien zu setzen. "Wer verunreinigt", so Douglas, "verfällt deshalb einer doppelten Verurteilung: einmal, weil er die Trennungslinien überschritten" hat und zum anderen, "weil er andere gefährdet."
Aufregend an Douglas Studie ist der Nachweis, dass das, was als "Schmutz" wahrgenommen wird, von vielen Religionen sakralisiert und somit als kreatives Potenzial in das System eingebaut wird. Gelebte Reinheit, die mehr als nur ein Symbol ist, fordert dagegen zum Aussondern auf und mündet letztlich in Sterilität. Reinheit, sagt Douglas, sei deshalb nur indirekt zu genießen und jede Gesellschaft, die sich strikte Reinheitskulturen auferlegt, habe mit unbequemen Folgen und Widersprüchen zu kämpfen. Wer also in Verunreinigungsvorstellungen denkt, für den stellt der Zerfall des Körpers - des eigenen, des "Volkskörpers" oder des Staates - das größte Problem dar.
Dagegen lenkt Douglas unsere Aufmerksamkeit auf die produktive Funktion der Ränder: "Sich am Rand befunden zu haben, mit der Gefahr in Berührung gekommen zu sein", sei auch eine Quelle von Kraft. "Die Randbereiche und unstrukturierten Zonen bergen Energien", markieren "Schwellen" und den möglichen "Eintritt in einen neuen Status". Über alle Kulturen hinweg ist der Körper dabei das entscheidende Referenzmodell, das auf den politischen "Körper" verweist. Je höher der Druck ist, der auf ihm lastet, je mehr er sich von den Rändern her bedroht sieht, desto mehr verlangt er nach Regeln der "Distanzierung", nach Reinheitsritualen.
"Der Körper", so Douglas´ Erkenntnis aus der Unmenge ihres ethnologischen Materials, "liefert ein Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann. Seine Begrenzungen können für alle möglichen Begrenzungen stehen, die bedroht oder unsicher sind." Wenn in der politischen Rede also wieder einmal der "soziale Abfall" zur Sprache kommt, vor afrikanischen Eindringlingen, die die europäische Festung stürmen, gewarnt wird oder vor schwarz bewamsten Chaoten, die den Corpus des genehmigten Widerstands sprengen, könnte man sich an die englische Ethnologin erinnern und an ihre Erkenntnis, dass aus der "rituellen Vermischung" und "Kompostierung" auch Erneuerung hervorgeht.
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