Rituelle Heuchelei

Rechtspopulisten Die nazistischen Tabubrecher aus Sachsen und die "wehrhafte Demokratie" auf dem Weg in die Normalität

Kürzlich stürzte Prinz Harry nicht nur die britische Königsfamilie, sondern auch das Europäische Parlament in heftige Verlegenheit, weil er in Nazi-Verkleidung auf einer Party erschienen war. Nicht minder blamierte dieser Tage die Junge Union in Mecklenburg-Vorpommern die Bundespartei, als sie den ehemaligen Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann zum Festredner eines Neujahrsempfangs machen wollte und ihn erst nach heftigem Protest wieder auslud. Hohmann war 2003 aus Fraktion und Partei ausgeschlossen worden, nachdem er in verqueren historischen Vergleichen die Juden zum "Tätervolk" umdefiniert hatte.

Den jugendlichen Provokateur aus London und die jungkonservativen Unionisten aus Wismar scheint vordergründig nichts zu verbinden als die Gewissheit, dass sie folgenlosen Anstoß erregen. Nazi ist in, Nazi ist Pop, und Nazi ist allenthalben geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen: Davon können seriöse NS-Historiker ein Lied singen, das wissen sensationsheischende Literaten, wenn sie sich an den Porno-Neigungen der SS delektieren und darauf spekulieren Politiker. Insbesondere für letztere gilt: Je größer der Tabubruch, desto sicherer der Sensationseffekt und desto aufgeregter und folgenloser die Empörung. Die rituelle Übung folgt, wie man gerade wieder einmal am Treiben der sächsischen NPD verfolgen kann, immer demselben Muster. Die Täter-Nachfolger verweigern den Opfern des Holocaust die Reverenz und erklären sich selbst zu nachgeborenen Opfern. Die politische Öffentlichkeit führt pflichtschuldige Gegenrede, fordert "Aufklärung" ein - und geht absehbar zur Tagesordnung über.

Natürlich funktioniert das nur, weil das, wogegen sich die Empörung richtet, längst gesellschaftliche inkorporierte Realität ist. Die neonazistische Offensive im sächsischen Landtag mag dummdreist und geschmacklos sein, und die Besuchertribüne, die Beifall zollt, ist natürlich bestellt. Doch die heimlichen Unterstützer der NPD sitzen als falsche Fünfer in Dresden auf den bürgerlichen Abgeordnetenbänken und ziehen das rechte Abstimmungsfähnchen. Sie sitzen in Archiven oder Redaktionsstuben, wo sie emsig Beweise sammeln für das Unrecht, das Deutschen während und nach dem Krieg angetan wurde, in brennenden Städten oder auf der Flucht. Und sie fordern immer lauter und deutlicher, mit einem "Schlussstrich" den Weg in eine nationale "Normalität" zu ebnen. Doch was bedeutet diese Normalität?

Umdeutungsbemühungen und Relativierungen der deutschen Geschichte sind nicht neu: Nach dem Krieg waren die Deutschen Opfer eines wahnsinnigen Verbrechers (der mittlerweile als bemitleidenswerter Psychopath inszeniert wird), heute sind sie Opfer der Alliierten, weil das anti-amerikanistische Strömungen bedient. Doch bis in die achtziger Jahre hinein stieß der Geschichtsrelativismus auf einen Gegenkonsens. Die - noch unbestrittene - kollektive Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus war verbunden mit einer historischen Vorstellung von den Ursachen: Der politischen Schwäche der ersten Republik, der Rolle der Industrie beim Aufstieg der Nazis, den sozialen Problemen und mentalen Lagen, die Deutschland in diesen zweiten, schrecklichen Weltkrieg geführt und den Holocaust ermöglicht hatten. Die westdeutsche Politik folgte jahrzehntelang einer Vermeidungsstrategie: Nie wieder Krieg und keine soziale Verwerfungen, die politischen Radikalismus hervorbringen.

Doch es scheint, dass das gebeugte Knie unter der Last der Nationalgeschichte schon lange kein mehrheitlich anschlussfähiges Sinnbild mehr für die neue "selbstbewusste Nation" ist. Das Gefühl der Scham lässt sich in rituellen Gedenkveranstaltungen nicht konservieren. Die 60-jährige Wiederkehr des Kriegsendes wird dagegen reichlich Gelegenheit bieten, die neue Rolle Deutschlands ins Bild zu setzen, an dem rhetorisch und praktisch wahrlich nicht nur die Rechten werkeln; so wenig wie die Rechtspopulisten die soziale Schieflage und den Sozialneid verantworten, in deren trüben Gründen sie so erfolgreich fischen.

15 Prozent der Bevölkerung rechnet man derzeit dem rechtsradikalen Wählerpotenzial zu. Genug, um so manchen Landtag zu einer Bühne für antisemitische und fremdenfeindliche Propaganda zu machen. NPD und DVU haben das Terrain für die nächsten Wahlen bereits abgesteckt. Doch weniger ihre Strategien und Hetzparolen entscheiden über ihren Erfolg als das von den Eliten verantwortete soziale Klima. Wer unablässig mit Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland droht, das Gespenst einer islamischen Majorisierung beschwört oder in Kauf nimmt, dass breite Teile der Bevölkerung ins soziale Abseits geraten, der heuchelt, wenn er "betroffen" und "empört" auf rechtsradikale Scharfmacher und ihren Anhang reagiert.

Geheuchelt ist auch der Streit um einen erneuten Versuch, die NPD verbieten zu lassen. Die Hürden der Verfassungsrichter seien zu hoch gesetzt, heißt es, und der Verfassungsschutz weigere sich, seine V-Männer, mit denen der Staat die rechte Szene alimentiert, "abzuschalten". Und so lange die rechten Provokateure nur verbal um sich schlagen, sind sie ganz nützlich, denn sie sagen öffentlich, was viele denken und liefern Gelegenheit, rituell einen Konsens zu bekunden, der längst aufgekündigt ist. Erst wenn - wie im Sommer 2000 - der Mob wieder mordend durch die Straßen zieht und das deutsche Ansehen bei ausländischen Investoren sinkt, wird die Verbotskarte erneut gezogen werden. Den Opfern nützen Ritualübungen wenig.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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