Rücktritt von Anne Spiegel provoziert grundsätzliche Fragen

Meinung Das Berliner Polittheater beklagt ein weiteres Opfer. Die grüne Familienministerin Anne Spiegel hat ihren Rücktritt erklärt.
Ausgabe 15/2022
Familienministerin Anne Spiegel
Familienministerin Anne Spiegel

Foto: Christoph Soeder/Getty Images

Das falsche Lächeln am falschen Ort. Der falsche Ort zur falschen Zeit. Als Politiker:in kann eine:n das einholen, das bekannteste Beispiel ist Armin Laschet und das zur Unzeit aufgenommene Foto. Bei der Flutkatastrophe kennt die offizielle Öffentlichkeit kein Pardon. Das zeigt auch der Fall von Ursula Heinen-Esser (CDU), die in Nordrhein-Westfalen gerade ihr Amt niederlegte, weil sie kurz nach dem Ereignis in Mallorca feiern ging.

Noch weniger Nachsicht gibt es bei Anne Spiegel, der grünen Familienministerin. Zu günstig war die Gelegenheit für die Opposition, aus der ehemaligen rheinland-pfälzischen Umweltministerin einen Strang für SPD-Kanzler Olaf Scholz zu drehen. Das Kalkül ging auf.

Aber was war das nun eigentlich für eine Performance, die die 41-jährige Politikerin da am Sonntag hinlegte, als sie sich mit kippender Stimme und sichtlich unkonzentriert dafür entschuldigte, dass sie mit ihrer Familie zehn Tage nach der Ahr-Flut für vier Wochen nach Frankreich in den Urlaub gefahren war?

Mutig, weil sie als Exponierte ihr Privatleben ausbreitete und damit Schwäche zeigte? Das Mitleidheischen einer überforderten Mutter von vier kleinen Kindern, deren gesundheitlich stark angeschlagener Ehemann nicht mehr die Stütze im Hintergrund geben konnte, die man in einer solchen Position unabdingbar braucht? Oder eine genau kalkulierte Vorstellung, die Spiegel das Amt retten sollte? Im letzteren Fall hätte sie nun Chancen auf anderen Bühnen.

Causa Spiegel provoziert grundsätzliche Fragen

Doch die Frau wirkte sichtlich angefasst, als sie dafür um Verzeihung bat, dass sie in einer dramatischen Situation nicht die nötige politische Präsenz gezeigt hatte. Unterschätzt kann sie die Situation zehn Tage nach der Flut nicht haben, und vielleicht war es ja so, wie es ihre brüchigen Sätze nahelegen: Ihr waren die beiden Ämter – bis Frühjahr 2021 sowohl Familien- als auch geschäftsführende Umweltministerin – und die Familienprobleme über den Kopf gewachsen. Als Spitzenpolitikerin ihrer Partei zog sie in den Wahlkampf, während ihre Kinder, wie sie sagt, nicht gut durch die Pandemie gekommen seien. Das ist etwas, was viele Menschen so gut nachvollziehen können. Die meisten dürften sich allerdings auch keinen vierwöchigen Urlaub leisten können.

Nun ist sie doch zurückgetreten. Das Berliner Polittheater beklagt ein weiteres Opfer im Familienministerium, das sich wieder einmal als Schleudersitz erweist. Es gab (im Westen) nie eine, die sich wirklich daran krallte. Vier Abschiede in den letzten paar Jahren. Und einen einzigen Aufstieg: Ursula von der Leyen. Bei Giffey, der führenden Berlinerin, naja, warten wir das mal ab.

Die Causa Spiegel provoziert aber auch viele grundsätzliche Fragen. Bedeutet ein Politiker:innendasein in jedem Fall, dass die Karte des Amts das Privatleben sticht? Wie aber sollen sich diejenigen, die das Volk angeblich vertreten, dann in dessen Situation versetzen? Politikerinnen waren ja auch einmal dafür angetreten, den Politikberuf zu „humanisieren“. Viel ist daraus nicht geworden, das beweisen die politischen Ausstiege von Frauen in den vergangenen Jahren. Alle bezeugen das „zu viel“, von dem auch Spiegel spricht.

Bisher hat jedenfalls noch niemand bewiesen, dass chronisch übernächtigte, gestresste und von schlechtem Gewissen geplagte Menschen gute Politik machen. Das Geschrei von „untragbarer Überforderung“ fällt doch auf ein steinzeitliches Berufsbild zurück, das auf Männer und kinderlose Frauen fokussiert war. Wollen wir das tatsächlich wieder?

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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