Sehnsuchtsort Eine innere Kompassnadel nach Osten und der früh ausgebildete Instinkt, dass Gefühle nicht verlässlich sind. Ilma Rakusas Erinnerungsbuch „Mehr Meer“
"Ich komme von weit, um meine hiesige Zugehörigkeit zu testen“: Was Ilma Rakusa 2004 anlässlich der Wiederbegegnung mit ihrer Geburtsstadt Rimaszobat schreibt, könnte als Motto über dem ganzen Buch stehen. Denn gleichgültig, wohin sie geht, sie kommt aus der Ferne; und egal, wo sie ist, bleibt sie fremd, auch dort, wo Vertrautheit aufscheint. Mit Ausnahme der inneren Orte, der Musik, den Büchern und Sprachen – und der Erinnerungsbilder.
Rimaszobat liegt in der Slowakei. Mehrmals ungarisch, fiel es mit dem Vertrag von Trianon an die Tschechoslowakei und gehört heute zur slowakischen Republik. Solche territorialen Wechselfälle sind in den politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts nicht selten und sie bestimmen die Schicksale der Menschen
r Menschen.Doch was das tantenbehütete Kleinstadtkind, das zwischen großväterlicher Konservenfabrik, mütterlicher Apotheke und Park aufwächst, erlebt, als die Eltern beginnen, die Koffer zu packen, um in einer unendlichen Odyssee durch Europa zu ziehen, übersteigt die üblichen Turbulenzen der Nachkriegsgeneration.Mit unmittelbarer Verfolgung hatten es der aus Slowenien stammende Vater und die noch in Ungarn geborene Mutter nach 1946, dem Geburtsjahr des Kindes, nicht zu tun; wohl aber waren es „Umstände“ und politisches Unbehagen, die ihr Nomadentum beförderten: „Wir flohen nicht, wir packten die Koffer.“ Und das Kind Ilma „wurde ja nicht gefragt. Das Weggehen entschieden die anderen.“Über 60 Jahre später hat das einstige „Unterwegskind“, Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin inzwischen, ein Buch vorgelegt, dessen Untertitel Erinnerungspassagen genau auf jene Schneisen verweist, die Erinnerung und Phantasie durch die Orte ihrer Kindheit und Jugend schlagen.Versprechen von WeiteMehr Meer, so der lautmalerische Titel, lässt die aufsteigende Sehnsucht spüren: nach der Gischt des vom wilden Bora aufgepeitschten Meeres, nach dem Salz, das auf der Zunge kitzelt, dem Sand zwischen den Zähnen, der Sonne, die durch die Jalousien Fantasiewesen an die Wände zaubert – und dem nie eingelösten Versprechen von Weite, das schon das Kind lockt und fürchtet, und das es, längst erwachsen, nie wieder loslassen wird.Triest ist der uneinnehmbare Sehnsuchtsort. Davor Budapest, von dem nur unscharfe Eindrücke geblieben sind, dann Ljubljana, wo die Rakusas mit der Großfamilie wohnten und einen Garten bevölkerten, der als Abfolge von Jahreszeiten im Gedächtnis des Kindes geblieben ist.Dort schon der Wunsch, sich zu verhaken, zu verankern, mittels Blumen und Pflanzen: „Mein Pflanztrieb war nicht wild, eher freundlich“. Wo unwegsame Straßen in beängstigenden Gefährten passiert werden mussten, wo unablässig zwischen Sprachen zu wechseln war, blieben verlässlich nur die Dinge. Der Pelzhandschuh aus Kaninchenfell zum Beispiel, der, „obwohl ans Ungarische gewöhnt“, am slowenischen Radebrech ebenso geduldig teilnahm wie an den italienischen Versuchen in der Enklave am Mittelmeer.Fremdsein in helvetischer EngeBevor das Kind noch in die Schule kam, hatte es schon ein Stück der europäischen Sprachkarte abgewandert, ganz zu schweigen von den Speise- und Wetterkarten. Was blieb, sind Geruch und Geschmack: Braunkohle in Ljubljana, frittierte Sardinen in Triest, Fett und Pisse auf den Provinzbahnhöfen Osteuropas.Die allerdings kamen erst später wieder, gleichwohl Rakusas „innere Kompassnadel immer nach Osten“ zeigte. Zunächst ist ein bitterer Abschied zu nehmen vom Meer („nie genug“!) und vom Licht: Wie muss das Kind gelitten haben, als es, jetzt schon mit einem kleinen Bruder, wieder einmal verfrachtet wird und zwischen hohen Bergen aufwacht. Mit ganz neuartigem Schnee und einer Sprache, die eine „doppelte Anstrengung“ war und zu der „überzusetzen“ die schon bekannten nicht zulassen.Zürich wird die vielleicht größte Herausforderung für das Kind. Nicht nur sind hier das Hochdeutsche und der Dialekt zu bewältigen; nicht nur ist der Züri-See kaum ein akzeptabler Ersatz für die Weite von Miramar; nicht nur nötigt das Wetter elende Häute ab und nicht nur muss man sich hier als Staatenlose vorsehen, weil feindliche Nachbarn einen bei den Behörden anschwärzen.Das Fremdsein in der helvetischen Enge, das Ducken unter Bergen und schlechter Nachrede, die Sehnsucht nach den Kniestrümpfen, die alljährlich die kalte Unwirtlichkeit beenden, sind so dramatisch, dass das heranwachsende Kind die Flucht nach vorn antritt: In die Krankheit (Migräne), die Musik (Klavier), die Literatur (Dostojewski) und zeitweise sogar in die Religion.Das Deutsche „wird Fluchtpunkt und Refugium“, und mit den „Irren“ der benachbarten Anstalt „Burghölzli“ teilt die Aufwachsende das Gefühl, immer ein bisschen außer sich zu stehen. Andererseits wird Zürich auch der Ort, an dem Ilma gleichaltrige Freunde gewinnt.Was Ilma Rakusa hier vorlegt und gerade für den Schweizer Literaturpreis nominiert wurde, ist alles andere als eine linear erzählte Autobiografie. Vielmehr wechseln aufgerufene Erinnerungs- mit Stimmungsbildern, gegenwärtige Skizzen und Notizen, unterbrochen von fiktiver Selbstbefragung, die Programm ist.Denn wie schon das Kind Ilma wenig auf kollektive Verständigung gab und auf den Dialog mit sich selbst setzte, verfolgt auch die Erwachsene eine atmosphärisch gesättigte und gleichzeitig außerordentlich blickscharfe Introspektion, die dort am gelungensten wirkt, wo sich das poetische Talent mit der Zeitdiagnose paart.Drang in die FerneDie tableau vivants aus Paris oder Leningrad der Endsechziger Jahre, wo Rakusa jeweils ein Studienjahr verbrachte, glänzen und leuchten selbst dort, wo äußere Tristesse das Thema ist. Und es dominiert eine Beobachterin, die sich „gegen den Strudel der Verlorenheit“ stemmt. Wo die Autorin dennoch einmal in den Strudel der Ereignisse oder der Gefühle gerät, in Prag 1967 oder in Paris, bleibt sie distanziert, mit dem „früh ausgebildeten Instinkt, dass Gefühle nicht verlässlich sind.“Die „Risse“ im Pflaster, das Krachen im Gebälk, die sie in Zürich vermisst, findet sie schließlich in anderen Ländern, insbesondere in Osteuropa. Mit dem Schweizer Pass in der Tasche, kann Rakusa den unbändigen Drang in die Ferne befriedigen. Und muss nach und nach erkennen, dass sie ihr Musiktalent nicht zum Beruf machen kann, weil „Migräniker nicht taugen für die Spannung des befrachteten Moments“.Am Ende dieser 69 präzise zusammengefügten, sprachsinnlich dichten Miniaturen zieht Rakusa Bilanz. Was sie zusammengetragen hat in ihrer Sammelwut, widersetzt sich der verordneten Ballastlosigkeit der Kindheit; was sie verloren hat auf diesen Reisen und was sie vermisst, ist aufgehoben in den Sprachen; was sie vergessen hat, kehrt wieder in Form von Gerüchen, noch vor den Bildern.„Was ich sehe, ist verwirrend reich. Und kommt mir manchmal so vor, als kennte ich es von irgendwoher. Folge ich Träumen oder Erinnerungen, sehnsuchtsvoller Neugier oder einem Uraltruf? Ich folge. Ich denke: Fremd, und mit einem Mal: Vertraut.“ Umhergewirbelt vom „Wind, vent, veter, szél“ verliert sie den inneren Kompass nie. „Da, sag ich zum Kind, da hast du die Windrose. Sie wird’s schon weisen. Staune und vertraue.“Mit Rakusa an der Hand wird man gerne wieder zum staunenden Kind.
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