Sebastian" heißt in Deutschland die neueste Chiffre, wenn über das "Kind als Schaden" diskutiert wird. In der Bundesrepublik wurden Ende der achtziger Jahre die ersten Urteile gesprochen, die das Ärztehaftrecht, das üblicherweise bei ärztlichen Kunstfehlern eintritt, auf Fälle ausweiteten, wo im Rahmen der pränatalen Diagnostik mögliche Anzeichen für eine Fehlbildung "übersehen" oder nicht mitgeteilt wurden und ein behindertes Kind auf die Welt kam. Obwohl der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts 1993 in seinem Urteil klar gestellt hatte, dass "die rechtliche Qualifikation des Daseins eines Kindes als Schadensquelle von Verfassungs wegen nicht in Betracht" komme, mehrten sich in den neunziger Jahren die Urteile, die behinderten Kinder
dern Unterhaltsleistungen zusprechen, wenn sie durch ärztlichen Behandlungsfehler oder mangelhafte Aufklärung der Eltern zur Welt gekommen sind. Vergangene Woche hat der Bundesgerichtshof nun höchstrichterlich einen Fall entschieden, der jahrelang durch die Instanzen ging.Behindertenfeinlich oder elternfreundlich? Die Eltern des mittlerweile sechsjährigen Sebastian H. forderten Schadensersatz, weil die behandelnde Ärztin nach pränataler Diagnostik die Eltern nicht darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Fötus an Armen und Beinen Anomalien zeigte und behindert zur Welt kommen würde. Die Mutter wurde nach der Geburt nachweislich depressiv, und erklärt, dass sie sich, auch wenn sie das Kind heute sehr liebe, damals für eine Abtreibung entschieden hätte; für eine sogenannte Spätabtreibung, denn sie hatte sich damals bereits in der 23. Schwangerschaftswoche befunden. Die Ärztin wiederum berief sich darauf, dass eine Abtreibung nach der 22. Woche rechtswidrig sei und sie den Fötus habe schützen wollen. Der Fall, der die öffentliche Erregungskurve wieder einmal kurzfristig nach oben trieb, bringt die oberste Richterschaft in den Verdacht, "behindertenfeindlich" zu urteilen, weil ihre Entscheidung Ärzte und Ärztinnen künftig bestärken wird, möglichst "risikolos" zu beraten und auch zweifelhafte Fälle von Schädigung "eindeutig" zu machen. Das ist paradox, weil die Richter und Richterinnen sich im konkreten Fall ja gerade für die Rechte eines Behinderten stark machten. In Verruf bringt das Urteil allerdings vor allem den Gesetzgeber, weil die verschiedenen Rechtslagen - Embryonenschutz, § 218, Stammzellenimportgesetz, Haftungsrecht, Persönlichkeitsschutz, Versorgungsrecht usw. - immer weniger in Deckung gebracht werden können. Unleugbar bringt der "Fall Sebastian" nicht nur das Dilemma der pränatalen Diagnostik (PND), sondern auch die Spätabtreibung, die nach dem gescheiterten Antrag der CDU/CSU vor wenigen Wochen im Bundestag erst mal wieder aus dem parlamentarischen Geschäft befördert schien, erneut auf die Agenda. Nach § 218 Abs. 2 ist ein Abbruch ohne Fristbeschränkung möglich, wenn Gefahr für das Leben der Frau besteht beziehungsweise gegenwärtig oder zukünftig schwerwiegende Einschränkungen für sie zu erwarten sind. Im Unterschied zur Abtreibung innerhalb der Dreimonatsfrist besteht nach medizinischer Indikation keine Beratungspflicht. In die Kritik geraten ist seit längerem nicht nur die Spätabtreibung als solche, sondern auch die Methode - der Fetozid im Mutterleib - der den ausführenden Arzt (zumindest, wenn es sich um einen Abbruch nach der 22. Schwangerschaftswoche handelt, nach der der Fötus als überlebensfähig gilt) in die Grauzone eines Tötungsdelikts bringt. Nun wurde schon während der großen Debatten um die Reform des § 218 immer wieder moniert, dass die frühere, auf Druck der Behindertenbewegung gestrichene sogenannte "embryopathische Indikation" durch die Hintertür der medizinischen wieder eingeführt würde. In der Praxis nämlich werden Spätabtreibungen meist dann vorgenommen, wenn der Gen-Check eine genetische Abweichung prognostiziert und sich - wie die Mutter von Sebastian - die schwangere Frau außerstande sieht, ein behindertes Kind aufzuziehen. Wie viele Schwangerschaften aus solchen Gründen tatsächlich abgebrochen werden, kann nur geschätzt werden, weil die Statistik nicht differenziert; dokumentiert sind im Jahr 2000 154 Fälle (nach der 23. Woche), die Schätzungen der Dunkelziffer schwanken zwischen 800 und 1700.Noch mehr Beratung? Die Bundesärztekammer hat bereits 1998 eine Fristbegrenzung gefordert, und der aufgescheuchte Bundestag richtete daraufhin eine interfraktionelle Arbeitsgruppe ein, die sich allerdings vor Jahresfrist wieder auflöste, weil man sich nicht auf die von der Union vorgeschlagene Regelung einigen konnte. Nach deren Vorschlag sollte sich die betroffene Frau einem interdisziplinär zusammengesetzten Gremium vorstellen, das über die Indikation entscheidet. Beratungsbedarf sieht die Union auch vor und nach der pränatalen Diagnostik. Noch mehr Beratung!, mag manche denken, die an den langen und zähen Debatten um den Abtreibungskompromiss beteiligt war und das damals noch als blanke Zumutung - "Bevormundung!" - empfand. Dies wollte die rot-grüne Koalition offenbar vermeiden, als sie den Unionsantrag ablehnte und statt dessen dafür plädiert, im Mutterpass den Rechtsanspruch auf Beratung festzuhalten. Das allerdings ist mehr als halbherzig, weil es die Diagnoseproblematik, die Tatsache, dass es nach einem pränatalen Befund keine Therapie gibt und, streng genommen, auch keinen ärztlichen Behandlungsauftrag, einfach ignoriert. Der Fall der Familie H. offenbart aber auch, in welche Situation eine schwangere Frau kommen kann, wenn sie durch die Fortpflanzungsmedizin plötzlich zur "Risikoschwangeren" umdefiniert und bis zum Beweis des Gegenteils zur (Aus-)Trägerin potentiell genetisch defekten "Materials" erklärt wird. In der routinemäßigen Diagnostikschleife durch statistische Wahrscheinlichkeiten "ver-ratlost" (Silja Sawerski), bleiben die betroffenen Frauen am Ende den Folgen ihrer Entscheidung selbst überlassen. Trägt eine Schwangere das möglicherweise behinderte Kind aus, trägt sie die Verantwortung und das finanzielle Risiko alleine und muss sich, wie die Mutter von Sebastian, anhören, dass "das" heutzutage doch "nicht mehr nötig" sei. Entscheidet sie sich dagegen, macht sie sich der behindertenfeindlichen Selektion verdächtig. Dies alles ist sattsam bekannt und auch nicht dadurch zu lösen, den Zeitpunkt der Pränataldiagnostik möglichst weit nach vorne zu legen, um deren hässliche Folge, die "grauenvolle Spätabtreibung" (Herta Däubler-Gmelin), zu vermeiden, sondern dadurch, prädiktive Tests - wie in anderen Lebenslagen auch - nur in begründeten Ausnahmefällen und nach informierter Zustimmung der Betroffenen anzuwenden. Das Argument, möglichst frühzeitig genetische Missbildungen zu erkennen und gar nicht erst wachsen zu lassen, wird nämlich auch gerne in der Diskussion um die Legalisierung der Präimplantationsdiagnostik angeführt.Vom Glück, geboren zu werden Juristisch gesehen wirft das Urteil des BGH jedoch Licht auf zwei weitere Aspekte: Es ging bei der Entscheidung um die zweifelsfreie Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechtes der Frau, die sagt, dass sie wissend anders entschieden hätte. Die Entschädigungsleistung jedoch bezieht sich vor allem auf Sebastian, das "Produkt", das aufgrund der Informationsunterdrückung entstanden ist. Ist nun der Arzt oder die Ärztin generell dafür verantwortlich, was bei einer Schwangerschaft "herauskommt"? Wohl kaum. Wie aber müssen sich Eltern von behinderten Kindern fühlen, die nicht in der Lage sind, einen "Fehler" des Arztes nachzuweisen und deshalb nicht auf Unterhaltszahlung klagen können? Warum darf eine behinderte Judith oder ein fehlgebildeter Marc schlechter gestellt sein als Sebastian, der sein "Glück", geboren und darüber hinaus gut versorgt zu werden einer Ärztin verdankt, die sich nicht korrekt verhalten hat? Zum anderen gibt es nicht nur ein Recht auf Wissen, sondern auch auf Nichtwissen; niemand kann aus guten Gründen beispielsweise zu einem AIDS-Test gezwungen werden. Was aber, wenn der Arzt, um sich aus der Haftungszone zu bringen, darauf besteht, einer Frau die Wahrheit zu sagen? Ist dann nicht auch ihr informationelles Selbstbestimmungsrecht verletzt? Das Versicherungssystem beruht auf dem Gedanken, nicht absehbare Risiken zu versichern. Die Fortpflanzungsmedizin suggeriert, dieses Risiko minimieren zu können durch frühzeitige Diagnostik. Die Vorstellung also, sich gegen das "Risiko" eines behindertes Kind versichern zu können, ist ziemlich abwegig, will man das pränatale Diagnosesystem nicht perfektionieren und Frauen zur Abtreibung nötigen. Doch auch die Stimme der Empörung gegen das Karlsruher Urteil ist zweizüngig: die der Ärzte, die sichtlich Angst vor weiteren Schadensersatzprozessen haben und sich in "Produkthaftung" genommen sehen; die der Kirchen, deren Barmherzigkeit bei ungewollt schwangeren Frauen endet; die der Politik, die sich nicht scheut, die Menschenwürde wahlkampftaktisch in Anschlag zu bringen.
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