Hirten auf Abwegen

Kirche Die Caritas sabotiert den Pflege-Tarifvertrag, Kardinal Woelki bremst Aufklärung von Missbrauch
Ausgabe 09/2021

Die katholische Kirche habe sich vom Leben abgemeldet, konstatierte kurz vor seinem Tod ihr solidarischster Kritiker, Heiner Geißler. Der ehemalige CDU-Generalsekretär und Frauenminister, der wie manch andere seinen Altersradikalismus pflegte, als der ihn politisch nichts mehr kostete, machte damals zwei Kernübel aus: die Verengung des offiziellen Katholizismus auf sexualethische Fragen, die es der Amtskirche unter anderem so schwer machte, mit den Skandalen sexualisierter Gewalt in ihrem Umfeld ernsthaft aufzuräumen. Und die Verbeugung vor der „Marktideologie“, die die katholische Soziallehre, der der ehemalige Jesuitennovize Geißler anhing, verdrängte.

Nimmt man die beiden Ereignisse in den Blick, die die katholische Kirche dieser Tage erschüttern, erweist sich Geißlers Diagnose als geradezu prophetisch. In Köln brechen die Server der Amtsgerichte zusammen, weil sie von Kirchenaustrittswilligen gestürmt werden; Termine sind bis in den April ausgebucht. Für die Unzufriedenen ist mit der neuerlichen Weigerung des dort selbstherrlich waltenden Kardinals Rainer Maria Woelki, das Gutachten des Strafrechtlers Björn Gercke über die Missbrauchstatbestände in seinem Bistum öffentlich zu machen, das Fass endgültig übergelaufen. Vertuschungsversuche und Strafvereitelung werfen ihm inzwischen selbst die eigenen Priester vor und fordern seinen Rücktritt. Die gleichzeitig tagende Deutsche Bischofskonferenz, von den Kölner Turbulenzen überrollt, machte eine unglückliche Figur, doch ihr sind die Hände gebunden, denn so wie der Papst nur von Gott, kann ein Kardinal nur vom Papst abberufen werden.

Auch die Diakonie will nicht

Just in diese „Kernschmelze“, wie es der katholische Theologe Thomas Schüller umschreibt, brach die Nachricht des katholischen Wohlfahrtsverbandes Caritas, sich dem von der Gewerkschaft Verdi und der Bundesvereinigung Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) ausgehandelten Tarifvertrag für die Altenpflege (der Freitag 6/2021) nicht anschließen zu wollen, wie eine weitere Brandbombe. Der lange ausgehandelte Versuch, in der Altenpflege nach Jahrzehnten des Lohndumpings und unübersichtlicher Vertragsverhältnisse endlich einen einheitlichen Flächentarifvertrag wie in anderen Branchen zu erreichen, ist damit zunächst gescheitert. Die über 600.000 bei der Caritas Beschäftigten – davon 156.000 in der Altenpflege – hätten das notwendige Quorum erfüllt, das es Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ermöglichen würde, das Tarifwerk für allgemeinverbindlich zu erklären. Die darin festgelegten Einkommen wären schrittweise bis 2023 um ein Viertel gestiegen, die Einkommen zwischen Ost und West angeglichen worden und der derzeit geltende Pflegemindestlohn von demnächst 11,80 Euro beziehungsweise 11,50 Euro hätte sich erledigt. Das Arbeitsministerium hatte das Vertragswerk unterstützt, unter Einbeziehung der Wünsche von Caritas und Diakonie.

Diese Tür wurde von der Caritas nun zugeschlagen. Die Diakonie, der zweite große kirchliche Arbeitgeber, hat, statt ein Signal zu setzen, ohne Not den Schlüssel umgedreht, indem sie gar keinen Beschluss mehr fasste. Beide Wohlfahrtsverbände hatten schon im Vorfeld abwehrend argumentiert, in der Altenpflege überdurchschnittlich zu bezahlen. Die Caritas bekräftigte dies, indem sie zeitgleich Lohnerhöhungen ankündigte.

Die Ablehnungsbegründung liest sich wie ein Abwehrzauber. Die von Verdi und BVAP ausgehandelten Regelungen greifen die bei der Caritas geltenden Differenzierungen zwischen den Berufsgruppen an. Die Ost-West-Angleichungen seien anders eingetütet. Und „grundsätzliche Bedenken“ bringt der Sprecher der Caritas-Kommission, Norbert Altmann, vor: Ein nicht gegenfinanzierter allgemeinverbindlicher Tarifvertrag mit steigenden Tarifgehältern schade den Pflegebedürftigen, die dann höhere Eigenanteile zu entrichten hätten.

Die „grundsätzlichen Bedenken“ dürften aber anderswo liegen. Zwar zahlen Caritas und Diakonie teilweise besser als die meisten privaten Träger. Noch. Das könnte sich aber ändern, wenn Beschäftigte in der Altenpflege insgesamt für mehr Einkommen streiken. Bisher verbieten dies das kirchliche Arbeitsrecht und die besonderen Loyalitäts- und Verhaltensgebote für die dort beschäftigten Arbeitnehmer. Deshalb wünschen sich die Dienstgeber – schon dieser Begriff! – den Erhalt des „Dritten Weges“ und „den Wettbewerb von Tarifwerken“, wie es in der Presseerklärung der Caritas heißt. Nichts fürchten sie mehr als die steigende Einflussnahme von Gewerkschaften in ihren Einrichtungen, was sie sich regelmäßig höchstrichterlich bestätigen lassen.

Die Entscheidung gegen einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag ist also vom unguten Geist neoliberaler „Marktideologie“, wie Geißler sagen würde, imprägniert. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste (BPA) an die Autorin dieser Zeilen. Im Vorfeld der laufenden Entscheidungen wird formuliert, dass die Kirchen sich den Weg in die Allgemeinverbindlichkeit wohl „sehr genau überlegen“ werden, weil sie sonst um ihre „tarifrechtliche Privilegierung“ fürchten müssten. Wer hat da eigentlich wem Unterstützung geleistet? Nur die Kirchen den Privaten, wie man überall liest? Oder auch umgekehrt? Der ehemalige FDP-Vorsitzende Rainer Brüderle, inzwischen Chef der BPA, zeigt sich jedenfalls sehr zufrieden mit der Entscheidung der Caritas-Kommission.

Auch Gesundheitsminister Jens Spahn hat sekundierte, als er den Pflege-Arbeitgebern in Aussicht stellte, die steigenden Personalkosten über die Pflegeversicherung zu finanzieren, wenn diese sich verpflichten, nach Tarif zu bezahlen. Irgendeinem Tarif? Verdi-Chef Frank Werneke vermutet in einem Interview mit dem Tagesspiegel darin ein „Ablenkungsmanöver, um die Allgemeinverbindlichkeit des Flächentarifvertrags zu verhindern“. „Gefälligkeitstarifverträge mit Pseudogewerkschaften“ könnten zu weiteren Dumpinglöhnen führen.

Die Empörung über den Caritas-Beschluss war allgemein, insbesondere die Mitarbeitervertreter in der Caritas-Kommission zeigten sich konsterniert von der „mangelnden Solidarität“ der „Dienstgeber“. AWO-Chef Jens Schubert beklagte die vertane Chance, den Fachkräftemangel in der Pflege zu beheben. Und Pflegefrontfrau Silvia Bühler von Verdi bringt es auf den Punkt: „Nach dem Klatschen die Klatsche.“ Nun bleibt den besonders schlecht Gestellten in der Pflege wieder einmal nur die Hoffnung auf die Pflegemindestlohnkommission, die Heil nun erneut einberufen will.

Ignoranz gegenüber dem Leid

Stolz dürfen die Caritas-Arbeitgebervertreter darauf sein, der katholischen Kirche einen weiteren Schlag versetzt zu haben und zu ihrem galoppierenden Prestigeverlust beizutragen. In ihrer Entscheidung, berechtigte Ansprüche von Arbeitnehmern um besserer Marktchancen willen in den Wind zu schlagen, spricht sich dieselbe „Blickverengung“ gegenüber den lebensnahen Bedürfnissen aus wie in der Ignoranz gegenüber dem Leid der Opfer sexualisierter Gewalt.

Wie lange eigentlich will sich die Gesellschaft diesen Sonderstatus der Kirchen noch leisten? Wie lange will der Staat als ihr Geldeintreiber fungieren und wie lange Beschäftigte sich einem Dienstgedanken beugen, von dem sich die Kirche längst losgesagt hat?

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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