Schatz

Wackerstein Ein Archiv des sozialen Gedächtnisses

Wenn eine Bewegung verebbt, kommt die Hochzeit der Archivare. In den Katakomben des kollektiven Gedächtnisses lagern sie die fossilen Überreste vergangener Tage, schützen sie gegen Verfall und harren des Tages, an dem der Wert ihrer Beute erkannt und ihr Schatz gehoben wird.

Im Fall der Neuen Frauenbewegung ist das besonders kompliziert, denn so informell und zersplittert die Bewegung einmal war, so verstreut die Archivalien und so schwierig das Unternehmen, die Gesamtbewegung zum Sprechen zu bringen. Insofern kann die Initiative der Bochumer Sozialwissenschaftlerin Ilse Lenz, zusammen mit ihren Mitarbeiterinnen in jahrelanger Kärrnerarbeit eine umfassende und kommentierte Quellensammlung zur Neuen Frauenbewegung in Deutschland zusammenzustellen, gar nicht hoch genug veranschlagt und gewürdigt werden.

Auf fast zwölfhundert dichtbedruckten Seiten macht sie nicht nur die zu den einschlägigen Jahrestagen kolportierten Leittexte wieder zugänglich, sondern gräbt auch längst Vergessenes aus. Wer erinnert sich schon noch an Schleim oder Nichtschleim?, den die Schwarze Botin den Vertreterinnen der Neuen Subjektivität in die Nase rieb? Oder an die Heinze-Frauen, die mit ihrem Kampf gegen Lohndiskriminierung Gewerkschaftsgeschichte schrieben? Wer findet sich noch zurecht in der heftig geführten Lohn-für-Hausarbeit-Debatte oder den verwickelten Anfängen der Frauenhaus- und Antigewalt-Bewegung?

Bei der "Ordnung des Diskurses" beschänkt sich die Herausgeberin auf vier grobe Periodisierungen: Die Anfänge von den späten Sechzigern bis Mitte der siebziger Jahre - der Teil, der auch für Eingeweihte die spannendsten Funde vorhält -, die darauf folgende Phase der Differenzierung, in den achtziger Jahren schließlich der Marsch in die Institutionen und der Beginn der "Verberuflichung". Die deutsche Vereinigung zwang die Westfrauen dann dazu, sich neu zu orientieren zu und ihre Netze global zu spannen.

Deutlich lässt sich in der Anordnung der Texte noch einmal der allmähliche Perspektivenwechsel von der Kategorie "Frau" zur Kategorie "Gender" nachvollziehen: Der die sechziger und siebziger Jahre prägende biologische Essentialismus wird abgelöst zugunsten des Konstrukts "Gender", das beide Geschlechter gleichermaßen fokussiert und sogar ein paar veränderungswillige Männer auf die Bühne spült. Souverän deshalb die Entscheidung, auch einige Schlüsseltexte der neuen Männerbewegung in ein Buch zur Frauenbewegung aufzunehmen.

Um "Einsteigerinnen" den Zugang zu erleichtern, werden die einzelnen Themenkomplexe und Dokumente mit Kommentaren flankiert. Dass sich bei der Fülle des Materials auch Ungenauigkeiten und Fehler einschleichen, lässt sich bei einem solchen Opus magnum kaum vermeiden. Problematischer dagegen ist die spezifische Sicht, die sich in der Auswahl der Quellen niederschlägt. Der sozialwissenschaftlich-historische Blick dominiert, der schon Ende der siebziger Jahre einsetzende postmoderne turn der Bewegung, der lange vor Judith Butler Debatten provozierte und zumindest die kulturwissenschaftlichen Disziplinen bis heute beeinflusst, wird eher kursorisch behandelt.

Folgenreicher noch ist die spezifische Westsicht, aus der die Frauenbewegung in Ostdeutschland - ´89 offenbar aus dem Nichts entstanden - als Intermezzo erscheint und die dort gemachten Erfahrungen als späte Variation des vorgegebenen Westmotivs.

Doch solche Einwände schmälern die Pionierleistung nicht. Dieser "Wackerstein" wird auch dann noch Gewicht haben, wenn die Aktivistinnen von einst nicht mehr selbst berichten können. Was sie betrifft, bleibt der frappierende Eindruck, dass sich da gar keine Bewegung auf die Straße ergossen hat, sondern in die Schrift. Der Glaube an das Wort war unerschütterlich.

Ilse Lenz Die Neue Frauenbewegung. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung. 1196 Seiten. VS Verlag für Sozialwissenschaften,Wiesbaden 2008, Euro 49,90

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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