Schlachtplatte

Gewebegesetz Der Umgang mit Gewebe soll künftig dem Arzneimittelrecht unterstellt werden - menschliche Körperteile werden damit zum kommerziellen Produkt

Wer einmal eine Organentnahme live beobachtet hat, wird an eine just-in-time-Produktion erinnert gewesen sein: Die verschiedenen Entnahme-Teams geben sich im OP die Tür in die Hand, bis schließlich alle verwendbaren Organe entnommen und über die Verteilzentrale Eurotransplant auf den Weg der Empfänger gebracht worden sind. Künftig könnte es im OP noch hektischer zugehen: Dann werden die Chirurgen nämlich nicht nur für Organe Schlange stehen, sondern auch für Herzklappen, Augenhornhäute, Venenstränge, Knochen, Haut und was der menschliche Körper ansonsten noch an Gewebeteilen zu bieten hat - eine richtige Schlachtplatte. Im Unterschied zu ganzen Organen fällt solches Gewebe - obwohl es in der Regel ebenfalls für Transplantationen verwendet wird - allerdings nicht unter das Transplantationsgesetz, das den Handel verbietet und für die gerechte Verteilung von Organen sorgen soll.

Das birgt eine Reihe von Risiken, denn bislang gibt es keine gesetzliche Gewähr dafür, dass etwa einem Toten ohne seine Zustimmung Gewebeteile entnommen werden; und keiner kann garantieren, dass das Gewebe "sauber", das heißt frei von Infektionen ist, wenn es verpflanzt wird. Zumindest in den Grenzen der EU sollen die Bürger und Bürgerinnen sowohl vor Geweberaub als auch vor kontaminierten Präparaten geschützt werden. Deshalb hat das Europäische Parlament eine entsprechende Richtlinie (EU 2004/23/EG) erlassen und die Mitgliedsstaaten beauftragt, sie bis März 2006 in nationales Recht umzusetzen.

Wie in anderen Bereichen des Medizinrechts tut sich die Bundesregierung auch in Sachen Gewebe schwer. Zunächst legte sie im letzten Moment, am 6. April 2006, einen von Fachverbänden und der Bundesärztekammer (BÄK) in der Luft zerrissenen Referentenentwurf vor, der im Oktober letzten Jahres ungeachtet aller Kritik schließlich in einen Gesetzesentwurf gegossen wurde ("Gesetz über Qualität und Sicherheit von menschlichen Zellen und Geweben"). Im November lag der Entwurf in erster Lesung dem Parlament vor, das ihn zwecks Überarbeitung an die Ausschüsse zurückverwies. Auch der Bundesrat will die Vorlage grundlegend geändert sehen; am vergangenen Mittwoch fand das öffentliche Anhörungsverfahren im Gesundheitsausschuss statt.

Die Kritik macht sich vorab daran fest, dass die Bundesregierung beabsichtigt, den Umgang mit Gewebe nach dem Arzneimittelrecht zu regeln. Das hat dramatische Konsequenzen für die rechtliche Zuordnung, denn menschliches Gewebe wäre dann ein Arzneiprodukt und eine Handelsware, die dem Wettbewerb unterliegt. Kliniken, monierte die BÄK schon ihrer ersten Stellungnahme im Mai 2006, würden dann wie ein pharmazeutisches Unternehmen behandelt, und für die Entnahme von Geweben eine Herstellungserlaubnis benötigen. Gleichzeitig wären die Kliniken den für Arzneimittel geltenden strengen Sicherheitsrichtlinien und aufwändigen Zulassungsverfahren unterworfen - was im Falle von "schnell verderblichem" Gewebe völlig kontraproduktiv ist. Bestimmte medizinische Behandlungsverfahren - etwa die Rückübertragung von Hautzellen bei Verbrennungen - würden praktisch unmöglich gemacht.

Da der Gewebemarkt expandiert und die "Ware" knapp ist, entstünde um die verfügbaren Produkte ein Wettbewerb mit hohen Gewinnchancen. Das treibt nicht nur die Kosten der Gesundheitsversorgung in die Höhe - weshalb auch die Krankenkassen protestieren -, sondern hat auch Konsequenzen für die Patienten. Unter Umständen werden künftig nämlich nicht mehr (prinzipiell nicht handelbare) Organe, sondern kommerzialisierbare Organteile entnommen. Organspende und Gewebespende träten dann in Konkurrenz zueinander, selbst wenn die Gesundheitsministerin der Organspende den Vorrang einräumen will.

Die generelle Kommerzialisierung von Gewebe birgt außerdem neue Anreizsysteme: Möglich wäre dann etwa der Handel mit Eizellen oder mit fötalem Gewebe aus Abtreibungen. Der Export wiederum entzöge es der deutschen Kontrolle, sodass niemand überprüfen kann, ob aus fötalem Gewebe beispielsweise Stammzellen hergestellt oder Eizellen zu Klonzwecken verbraucht werden. Wenn außerdem finanzielle Entschädigungen für die Gewebespender in Aussicht stehen, könnten sich gerade sozial benachteiligte Frauen aufgefordert sehen, eine Schwangerschaft abzubrechen.

Die Bundesärztekammer weist in einer ausführlichen Stellungnahme darauf hin, dass die EU-Richtlinie zwischen Geltungsbereich und Anforderungen im Hinblick auf Beschaffung und entnehmender Einrichtungen sehr deutlich differenziert; eine unterschiedslose Unterstellung aller Gewebe unter das Arzneimittelrecht sei mit der Richtlinie nicht zu begründen und gehe weit über den europäischen Regelungsauftrag hinaus. Auch sieht die Richtlinie kein spezielles Zulassungsverfahren für Gewebetransplantate und Gewebeeinrichtungen vor.

Bemerkenswert ist, dass kein anderes europäisches Land die Geweberichtlinie im Sinne der deutschen Vorlage umzusetzen beabsichtigt. In Schweden, Luxemburg und den Niederlanden werden eigene Gewebegesetze vorbereitet, die sich an die nationalen Transplantationsregelungen anlehnen. In Frankreich sind nur weiterverarbeitete Gewebeprodukte vermarktbar. Österreich, das Gewebe ursprünglich ebenfalls dem Arzneimittelrecht unterstellen wollte, ist mittlerweile auf dem Weg zu einem Gewebesicherheitsgesetz, das (nicht handelbares) Gewebe von verarbeiteten Produkten abgrenzt.

"Kein Patent auf Leben", lautet der Greenpeace-Slogan gegen die weltweite Biopiraterie. "Kein Kommerz mit menschlichem Gewebe!", fordert die Bundesärztekammer. Vielleicht stehen da ganz neue Allianzen ins Haus.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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