Schrumpf

EU-Bevölkerung Wie die Geburtenrate auf die große Politik durchschlägt

Bevölkerungszählung ist ein altes Geschäft. Schon die Bibel berichtet von einer Volkszählung des römischen Kaisers Augustus, in deren Folge Maria und Joseph nach Bethlehem aufbrachen, um sich in den Steuerlisten registrieren zu lassen. Doch erst seit dem 19. Jahrhundert stieg die Bevölkerungswissenschaft auf zu einer Disziplin im Dienste staatlicher Planung: Malthus entwickelte sein pessimistisches "Bevölkerungsgesetz", in dem er Fortpflanzung und Konkurrenz zum Überlebensschlüssel der menschlichen Spezies bestimmte.

Die Renaissance der Demographie in den letzten Jahrzehnten verdankt sich dem Umstand, dass die Politik seit den siebziger Jahren die demographischen Daten gerade nicht zu deuten wusste und es versäumte, auf das veränderte Fertilitätsverhalten zu reagieren. Schrumpfende Bevölkerung, wird uns allenthalben vorgerechnet, bedeute Mangel an Arbeitskräften, leere Sozialkasten. allgemein: sinkender Wohlstand.

Indessen, darauf macht das Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock - eine der demographischen Leitinstitutionen in Deutschland - aufmerksam, beeinflusst das persönliche Fortpflanzungsverhalten ganz unmittelbar auch die große Politik. Zusammen mit der Bundeswehruniversiät München haben die Rostocker Wissenschaftler untersucht, welche Auswirkungen die Bevölkerungsgröße künftig auf die Entscheidungsprozesse der Europäischen Union haben werden (vgl. Demographische Forschung 3/2007). Noch gut in Erinnerung ist der Streit um die im Ministerrat geforderte "Quadratwurzel", mittels der Polen den Einfluss der mittelgroßen Staaten hatte stärken wollen. Das Unternehmen ist zwar gescheitert, doch einige in den letzten Jahren getroffene Entscheidungen auf EU-Ebene - zum Beispiel die Einführung qualifizierter Mehrheiten und das ab 2009 geltende Staaten- bzw. Bevölkerungsquorum - werden dafür sorgen, dass Bevölkerungsveränderungen auf die europäischen Gestaltungsspielräume durchschlagen.

Von besonderem Interesse, so Harald Wilkoszewski und Ursula Münch, ist dabei die gegenläufige Bevölkerungsentwicklung in der EU: Die eine Hälfte der Mitgliedsstaaten, etwa Frankreich, Spanien, die skandinavischen Länder und die Benelux-Staaten, werden voraussichtlich zulegen, während die Bevölkerung in der anderen Gruppe (Deutschland und die Staaten Mittel- und Osteuropas) schrumpfen wird. Wenn demnächst aber qualifizierte Mehrheitsentscheidungen nicht nur 55 Prozent der Länder, sondern auch 65 Prozent aller EU-Bürger repräsentieren müssen und andererseits Vorhaben (von mindestens vier Staaten) nur dann blockiert werden können, wenn diese Staaten 35 Prozent der EU-Bevölkerung stellen, verschieben sich die künftigen Koalitionen.

Bislang verbündeten sich im Ministerrat beispielsweise Nettozahler gegen Empfängerstaaten, oder die Gruppe der Wachstumsstaaten beziehungsweise die neuen Mitgliedsländer versuchten ihre Interessen gemeinsam geltend zu machen. Wenn aber, wie die Schätzungen der Vereinten Nationen vermuten lassen, etwa die Bevölkerung in Osteuropa sinkt, vermindert dies auch das Standing der neuen EU-Länder, laut Studie der beiden Forscher von 21 Prozent (2009) auf 17 Prozent (2050). Für diese Gruppe ist der Beitritt der Türkei also von elementarer Bedeutung, weil sie sonst auf mehrere andere, möglicherweise nicht sichere Bündnispartner angewiesen wäre und selbst dann langfristig an Einfluss verlöre.

Die Autoren weisen darauf hin, dass die demographische Entwicklung in den jeweiligen Ländern auch neue Weichen für die europäishen Kerngeschäfte - zum Beispiel die Sicherheitspolitik - stellen könnte: Schrumpfende Gesellschaften, so die Hypothese, setzen andere Prioritäten als wachsende. Die Forscher ziehen die Schlussfolgerung, dass es im Europa der 28 (inklusive Türkei) immer schwieriger werden wird, Mehrheiten zu bilden, während sich Sperrminderheiten relativ einfach formieren lassen; das könnte einer Blockadepolitik den Weg ebnen.

Wahrscheinlicher wird diese Entwicklung noch, wenn man mit einbezieht, was Maria Rita Testa und Wolfgang Lutz in der gleichen Nummer des Bulletins festhalten, dass es in Europa nämlich einen Zusammenhang zwischen tatsächlicher Geburtenrate und Kinderwunsch gibt, das heißt junge Menschen, die in einer kinderarmen Umgebung groß werden, weniger Nachwuchs planen als andere. Das würde den oben aufgezeigten Trend noch einmal verstärken - einmal unterstellt, dass es bei den eingeübten Interessenskoalitionen bleibt. Und das ist im Planungskalkül der Demographen offenbar keine Frage wert.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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