Schuss aus der Hüfte

Operationen Minister Bahr sorgt sich um die Gelenke der Deutschen. Die Spar­debatte, die er damit entfacht, kommt ganz zur Unzeit

Mengenrationierung ist im Gesundheitswesen der einfachste Weg, Kosten zu senken und Geldströme zu kanalisieren – so sieht es wohl auch die schwarz-gelbe Koalition. In ihren Eckpunkten zur Krankenhausfinanzierung hat sie sich deshalb auf sogenannte Mehrleistungsabschläge geeinigt. Das heißt, wenn Behandlungszahlen in Kliniken auffällig steigen, müssen die Kassen pro Fall weniger zahlen. Begründet wird dies mit der Annahme, dass mit unnötigen Eingriffen Betten ausgelastet werden.

In diesem Zusammenhang hat die Ankündigung von Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP), die Zunahme von Knie- und Hüftoperationen bremsen zu wollen, heftige Beißreflexe ausgelöst: „Wird Senioren bald nicht mehr jede Operation bezahlt?“, fasste die Bild-Zeitung den Unmut populistisch zusammen und erinnerte an den christdemokratischen Jungprovokateur Philipp Mißfelder, der schon vor neun Jahren der 85-jährigen Oma das künstliche Hüftgelenk vorenthalten wollte. Dafür musste er mit einem Kniefall vor den Alten büßen.

Die neuerdings ministeriell angeschobene Rationierungsdebatte – einst Lieblingsprojekt des ehemaligen Ärztepräsidenten Jörg-Dietrich Hoppe – kommt allerdings ein bisschen zur Unzeit. Angesichts der von den Krankenkassen angehäuften Milliarden ist niemand zu vermitteln, warum gerade jetzt bei der Gesundheit gespart werden soll, zumal sich die Koalition weigert, die Überschüsse an die Versicherten zurückzugeben oder die Praxisgebühr abzuschaffen.

Der „Kunde“ entscheidet

Der erhobene Zeigefinger gegenüber den Kliniken wirkt aber auch deshalb schwer nachvollziehbar, weil der Plan für den „Mehrleistungsabschlag“ fast zeitgleich mit der Ankündigung öffentlich wird, dass einmalig 300 Millionen Euro zusätzlich als Ausgleich für die Tarifsteigerungen an die 2.000 stationären Einrichtungen fließen sollen. Die Ärzte an kommunalen Kliniken haben ihre Lohnerhöhungen bereits durchgesetzt; an den Unikliniken schwelt der Konflikt noch. In Baden-Württemberg läuft derzeit die Urabstimmung für den Streik.

Befeuert wird die Debatte über die Deckelung der Operationen durch die Statistik der vergangenen Jahre und Schreckensszenarien für die Zukunft. Die Zahl der Hüft-OPs ist nach einer Erhebung der Krankenkasse Barmer GEK seit 2003 um 18 Prozent gestiegen – altersbereinigt im Hinblick auf den demografischen Wandel allerdings nur um neun Prozent. Eingriffe am Knie haben altersbereinigt um 43 Prozent zugenommen.

Das könnte zum einen auf die verbesserten Implantate zurückzuführen sein, zum anderen aber auch – und das ist tatsächlich alarmierend – auf den eklatanten Anstieg bei „Revisionseingriffen“: Die Nachoperationen wegen Komplikationen nahmen am Knie um satte 117, an der Hüfte immerhin um 41 Prozent zu. Damit ginge der Ball wieder an den Gesundheitsminister zurück: Herr Bahr, wie viele Knochenpfuscher sind in Deutschland eigentlich am Werk?

Bahrs Schuss aus der Hüfte ins Knie ist in jedem Fall mehr als nur Geplänkel im Wahlkampf. Das „Knochenkabarett“ verweist nämlich auf einen hilflosen Patienten, der kaum in der Lage ist zu entscheiden, wie es um seine Hüfte oder um ihr Knie bestellt ist und ob eine Operation angebracht oder Beutelschneiderei ist. Dabei ist der neuerdings als „Kunde“ titulierte Kranke doch ausdrücklich gefordert, selbst zu bestimmen.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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