Seid umschlungen, ihr Millionen

Berliner Abende Weltberühmt und windig ist der Turm, den du verantwortest. Bestiegen habe ich ihn erstmals vor fast dreißig Jahren, nach links und rechts die just ...

Weltberühmt und windig ist der Turm, den du verantwortest. Bestiegen habe ich ihn erstmals vor fast dreißig Jahren, nach links und rechts die just eingeübten Vokabeln werfend: "Oh, pardon monsieur, c´est un erreur regrettable!", als wir in einem Pariser Bus mit falschem Ticket fuhren und irgendwann spätnachts am Fuße des Montmartres inmitten der europäischen Jeunesse selbstvergessen und mit feuchten Augen let it be klampften. Fünfzig Stufen über uns wachten unsere Lehrer, damit wir Provinzschäfchen nicht verloren gingen. Das aber erfuhren wir erst am folgenden Morgen in unserer Absteige, die uns schon beim Anblick der schiefen Estriche verrucht erschien. Paris war das ultimative Schlüsselerlebnis. Damals wusste ich noch nicht, wie du aussiehst. Das kam erst viel später und beiläufig.
Du hast ein volles Gesicht, zurückgekämmtes Haar und einen Bart, der in die Haussmann-Dekade, die Paris in ein übersichtliches Netz verwandelte, passt. Ich bin mit dir zuletzt vor zwei Jahren durch Südfrankreich gereist, von Lyon kommend über die Alpes Maritimes nach Vauvenarges, wo Picasso sein letztes Domizil hatte. Aufgelesen habe ich dich, glaube ich, in Dié, wo die regionale Residenz der Banque Nationale vornehm hinter schmiedeeisernem Torgold residiert. Dort sind wir deine lausigen Kombattanten losgeworden, die uns in Bourgoin-Jallieu fast Knast eingebracht hatten, weil sie nicht mehr als gültiges Zahlungsmittel taugten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
Seither liegst du jedenfalls mehr oder weniger vergessen und in mehrfacher Ausführung in der Schublade. Gelegentlich dachte ich, ich müsse irgendwas mit dir anfangen. Aber erst in diesen letzten Märztagen stehe ich nun hier mit dir, Alexandre Gustave, zusammen mit Jan Pietersz und Costant Permeke und den portugiesischen Terra Brasils. Die sagen mir viel weniger als du.
Es ist so scheußlich kalt heute. Der Wind fegt kristallin über den Hausvogteiplatz, der immer noch provisorisch wirkt. Die Stufen der U-Bahn, die an die vertriebenen jüdischen Konfektionäre erinnern sollen, hinaufkeuchend, äuge ich nach links quer über den Platz. Ich bin ziemlich kurzsichtig, so dass ich das Szenario an der Kurstraße nur verschwommen wahrnehme. Ich glaube es nicht, gehe weiter über das unwirtliche Gelände. Gerade rügt ein aufsichtsführender Polizist einen Falschparker. Ich glaube es noch immer nicht!
"Kommen Sie am besten erst im März", hatte die freundliche Telefonstimme mir geraten, als ich mich nach den Öffnungszeiten der Berliner Landeszentralbank erkundigte. "Im Moment ist es hoffnungslos, wir machen meist schon um zehn Uhr dicht. Aber im März", versicherte sie, "wird sich die Lage entspannen."
Nun ist es März und die erste Frühlingshoffnung schon wieder verweht. "Die Lage" hat sich überhaupt nicht entspannt. Mindestens zweihundert Menschen stehen in einer nicht endenden Schlange vor der Bank und warten auf Einlass. Sie steht trotz Kälte und Regen stoisch und schaut. Berliner Warten scheint generationenübergreifend eingeübt. Der Türsteher schaut ebenfalls, ausdruckslos. Er wartet, bis sich die Tür öffnet. Nicht immer winkt er dann jemanden herein. Die Menge vor der Bank liest, ich sehe den Kurier und Rosamunde Pilcher und Günter Grass. Dieses phantastische Berliner Lesepublikum!
Unschlüssig schreite ich die Schlange ab, die das hässliche Gebäude säumt. Das dauert. Probehalber stelle ich mich ganz ans Ende, von dem aus ein Anfang nicht ausmachbar ist. Nach acht Minuten - ich sehe auf die Uhr! - kein Quentchen Bewegung nach vorn. Ungeduldig laufe ich wieder in Richtung Erlösung, obwohl ich weiß, da hinten kommen die nächsten, dann dauert es noch länger. An der Spitze angelangt, ein vorsichtiges Gespräch: Wie lange man denn schon stünde und zu welchem Behufe? 800 Eiffels, viertausend Meter Brasilien und ein paar Jan Pietersz, das lohne doch nicht, meint eine Frau und wedelt mit einem Bündel blauer Scheine. Woher sie die hat? Doch da ist schon wieder Misstrauen, ich will mich doch nicht vorschmuggeln durch mein beiläufiges Gequatsche?
Der frierende Polizist tröstet mich. Heute sei es besonders schlimm, drei bis vier Stunden müsse ich rechnen und gleich würde die Bank wohl ohnehin schließen. Ich schaue ihn ungläubig an. Aber nächste Woche, vielleicht nur zwei oder drei, beruhigt er, und möglicherweise sei es dann schon wieder wärmer. "Aber nur noch vier Tage", warnt er, dann sei der Umtausch der europäischen Größen endgültig vorbei.
Nein, Messieurs Eiffel und Permeke und wie ihr, die mir in Obhut gegeben seid, auch heißen mögt, nicht mit mir! Da trage ich euch lieber wieder nach Hause und träume mich fort mit euch auf die Höhen des Eiffelturms und in die bunten schokoladeschwangeren Confisserien von Brüssel. Seid umschlungen, ihr Millionen, so süß wie ihr kann kein Euro sein!

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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