Selbstheilungskräfte des Marktes?

Gesundheitsreform In homöopathischen Dosen veröffentlicht das Ministerium den Horror vacui - wir empfehlen die Vorablektüre

In der Politik ist es wie in der Medizin: Homöopathische Dosen versprechen den nachhaltigsten Erfolg. Wenn es sich gar um die neuralgische Schnittstelle zwischen Medizin und Politik handelt, dann ist besondere Niedrigdosierung angesagt - weshalb wir in den letzten beiden Wochen immer nur kügelchenweise von dem verabreicht bekommen, was Gesundheitsministerin Ulla Schmidt massiert auf den Rezeptblock gepackt hat: Dass das Krankengeld künftig aus der paritätischen Finanzierung ausgeschlossen und von den Versicherten allein getragen werden soll, war schon im Vorfeld als eine der umstrittensten Maßnahmen debattiert worden. Auch die von Praktikern für unsinnig erklärte Praxisgebühr von 15 Euro hat sich, wenn auch mit einigen wenigen Ausnahmen, gehalten. Vergangene Woche wurde dann bekannt, dass neben den sogenannten versicherungsfremden Leistungen (Mutterschaftsgeld, Schwangerschaftsabbruch u.ä.) auch die künstliche Befruchtung künftig nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden soll.

Ministerieller Luxus

Doch das, was nun seit einer Woche und noch unveröffentlicht als die "Totalreform" aus dem Hause Schmidt kursiert, spottet der Ankündigung, einen "großen Wurf" zu landen. Nachdem der Entwurf wieder einmal die bedauerliche Lage, in der Bundesrepublik würde zu viel Geld für zu wenig gute Versorgung ausgegeben, skizziert und "Effizienzsteigerung", "Qualitätserhöhung" und "Wettbewerb" als gesetzgeberische Eckpfeiler anmahnt, ist das Regelwerk eher geprägt von halbherzigen Strukturreformen, soweit sie die Leistungsanbieter im Gesundheitssystem betreffen, und von bemerkenswerten sozialen Schieflagen. Am markantesten vielleicht, und ganz hinten im Entwurf versteckt, mag die erstmals generelle Abschaffung der Zuzahlungsbefreiung gelten: Selbst Sozialhilfeempfänger werden künftig einen, wenn auch geringeren Obolus für Medikamente, Heilmittel und Krankenhausaufenthalt zu entrichten haben. Dem gegenüber steht, dass sich das Ministerium, trotz sinkender Erwerbsquote, noch immer den Luxus erlaubt, alle Einkommen, die nicht unmittelbar aus abhängigen Beschäftigungen fließen, von der Finanzierung der Gesundheitskosten auszunehmen. Das steht in eindeutigem Widerspruch zu dem, was SPD-nahe Wissenschaftler der Bundesregierung im April 2002, also noch vor der Bundestagswahl, empfahlen, und was Ulla Schmidt zu Beginn ihrer Amtszeit immerhin noch in Erwägung gezogen hatte.

Dass an erster Stelle der "Qualitätsverbesserung" die Einrichtung des Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin steht, wird kaum überraschen, und vielleicht wird man - trotz Dementi - doch noch erleben, dass ihm sein Propagandist Karl Lauterbach vorstehen wird. Auf diesen ist maßgeblich auch der Plan zurückzuführen, die Fachärzte aus den Kollektivverträgen herauszulösen und sie ins Einzelvertragsverhältnis mit den Kassen zu zwingen. Für die bereits niedergelassenen Ärzte bleibt die alte Regelung bestehen, Neuzugänge in der fachärztlichen Versorgung allerdings werden künftig auf den "Kollektivschutz" der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) verzichten müssen. Nur Haus-, Kinder- und Augenärzte sowie Gynäkologen bleiben davon ausgenommen. Wie vielfach angekündigt, werden die Hausärzte gegenüber den Fachärzten gestärkt und als "Lotsen" beauftragt; nicht nur administrativ, sondern auch über finanzielle Anreize: Geplant ist, die Teilnahme am Hausarztsystem an ein Bonussystem für Patienten zu koppeln.

Verpasste Mutprobe

Das Einzelvertragssystem will bekanntlich den Kassen Instrumente an die Hand geben, die Macht der KVs zurückzudrängen und im Kassenwettbewerb, der mit der Einsetzung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs ab 2007 voll durchschlagen wird, zu bestehen. Aber an diesem Punkt endet dann auch schon der Mut, sich in den Clinch mit der Ärzte-Lobby zu werfen: Deren "Verpflichtung zur Fortbildung" ist gerade mal ein Satz gewidmet. Und der integrale Teil der Strukturreform - die Verbesserung der integrierten Gesundheitsversorgung - wurde in wesentlichen Teilen zurückgestutzt. Die geplante ambulante Versorgung der Krankenhäuser beispielsweise bleibt beschränkt auf "hochspezialisierte Leistungen" (z.B. Krebsversorgung) und Desease-Management-Programme; an eine Wiederbelebung des Polikliniksystems ist nicht gedacht, denn auch die Gesundheitszentren, die nun in die vertragsärztliche Versorgung miteinbezogen werden sollen, sind niedergelassenen Fachärzten gleichgestellt. Zu befürchten ist, dass hier durchkalkulierte Profit-Center den "Einmann/Einfrau"-Praxen Konkurrenz machen.

Ähnliche Zurückhaltung gilt auch für die zweite mächtige Interessengruppe, die Pharmaindustrie. Zwar dürfte ihr die Pille, dass nicht verschreibungspflichtige Medikamente nun aus der Preisbindung herausgenommen und - hoffentlich - billiger werden, so wenig schmecken wie die Einbeziehung patentgeschützter Arzneimittel in die geltende Festgeldregelung. Die Pillenvermarkter können aber auf eine Allianz ganz anderer Art hoffen: Wenn nämlich, wie geplant, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel künftig nicht mehr von der Kasse bezahlt werden, dann könnten Ärzte - auch um ihre Patienten finanziell zu entlasten - dazu übergehen, verschreibungspflichtige Medikamente zu verordnen.

Symbolisch ist den Versicherten und Patienten im Entwurf aus dem Hause Schmidt eine besondere Rolle zugedacht: Sie sollen künftig als gleichberechtigte Partner auf einem immer unübersichtlicheren Gesundheitsmarkt agieren. Dem dient das einzurichtende Qualitäts-Zentrum im Großen wie die Kontrolle der Kosten qua Patientenquittung im Kleinen. Wie bereits Frauen, Behinderte und Ausländer dürfen sich Patienten demnächst auch eines "Patientenbeauftragten" erfreuen. Daraus wird wohl kein Schaden erwachsen, außer vielleicht - im Hinblick auf den Datenschutz - aus der elektronischen Gesundheitskarte, die flächendeckend zum 1. 1. 2006 eingeführt werden soll.

Solidarität ist unmodern

Gleichzeitig wird die gutwillige Lektüre dieses Entwurfsteils konterkariert vom Eindruck, dass Gesundheit mehr und mehr zum individuellen Risiko wird, soweit es sich um die Kostenlast handelt. Dass nach der Pflegeversicherung nun das Krankengeld ausschließlich von den Versicherten berappt werden soll, mit der völlig absurden Begründung, dieses habe nichts mit Krankheit zu tun, kann nur als der bereits mit der Pflegeversicherung eingeschlagene Einstieg in den Ausstieg aus dem paritätischen Gesundheitsfinanzierung gewertet werden.

Was Praxisgebühr, Sehhilfen, Krankenhaus- oder Arzneimittelzuzahlung betrifft, kommt das geplante Gesetz dort wieder an, wo Horst Seehofer einst aufgehört hatte: Bei der scheibchenweise, aber merklichen Zusatzbelastung von Kranken, die zwar auf zwei Prozent des Bruttogehalts beschränkt bleiben soll, aber, wie gesagt, keine absoluten unteren Befreiungsgrenzen mehr kennt: Das hätte sich nicht mal der Mann von der CDU getraut. Eine "Strukturreform" ist das so wenig, wie der zusätzliche Tabak-Euro, der zur Gegenfinanzierung der versicherungsfremden Leistungen eingetrieben werden soll.

"Strukturreform" wäre gewesen, wenn das Ministerium den Kreis der Beitragszahler und die Einkommensbasis für die GKV ausgeweitet hätte und der Abwanderung "guter Risiken" in die Private Krankenversicherung vorbeugen würde; wenn es die integrierte Versorgung konsequent und ohne Rücksicht auf Besitzstände vorangetrieben und gleichzeitig das angekündigte Präventionsgesetz als wesentlichen Bestandteil der Gesundheitsreform mitgeliefert hätte. Doch Solidarität ist zugegebenermaßen nicht gerade modern. Deshalb wird auf die "Selbstheilungskräfte des Marktes" - Einzel- statt Kollektivverträge, Konkurrenz bei den Arzneimitteln - vertraut. Und darauf, dass die Senkung der Lohnnebenkosten neue Arbeitsplätze und lohnabhängige Beitragszahler schafft. Wenn dies nun wieder nicht funktioniert, wird das paritätisch finanzierte Gesundheitssystem so abgewirtschaftet sein, dass es von den privaten Geiern mühelos ausgenommen werden kann. Und alle werden behaupten, das nie gewollt zu haben.


Geplante Veränderungen für die Versicherten

Teilöffnung der Krankenhäuser für die ambulante Behandlung

Einführung des Hausarztsystems

Stärkung der Patientenrechte durch Information, Transparenz und die Bestellung eines Patientenbeauftragten

Kostenerstattung bei Inanspruchnahme von Leistungen im europäischen Ausland (für gesetzlich Versicherte mit Genehmigung der Krankenkasse)

Bonussystem für die Teilnahme am Hausarztsystem und Disease-Management-Programme

Patientenquittung auf Verlangen

Elektronische Gesundheitskarte ab 2006

Versicherungsfremde Leistungen (Mutterschaftsgeld, Schwangerschaftsabbruch, Verhütungsmittel, Künstliche Befruchtung ect.) werden aus der GKV herausgenommen und vom Bund finanziert (Erhöhung der Tabaksteuer)

Krankengeld wird künftig allein von den Versicherten und obligatorisch im Rahmen der GKV finanziert

Nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel werden nicht mehr von der Krankenkasse bezahlt (Ausnahme: Kinder bis zum 12. Lebensjahr und im Einzelfall bei besonders schweren Erkrankungen)

Versorgungsbezüge und Alterseinkünfte aus selbstständiger Arbeit der in der GKV versicherten Rentner werden beitragspflichtig

Sozialhilfeempfänger, die nicht gesetzlich versichert sind, werden im Rahmen der GKV versorgt; der Sozialhilfeträger erstattet einen entsprechenden Anteil der Aufwendungen

Praxisgebühr von 15 Euro (nicht bei Hausärzten, Gynäkologen, Augen- und Kinderärzten)

Sehhilfen werden, mit Ausnahme von Kindern, Jugendlichen und schwer Sehgeschädigten, nicht mehr erstattet

Arzneimittelzuzahlung erfolgt nach Packungsgrößen stark differenziert; die Befreiung von Zuzahlung wird generell aufgehoben. Der Eigenanteil kann sich im Rahmen einer Bonusregelung mindern; für sozial Schwache gilt eine Mindestzuzahlung pro Packung

Die Zuzahlung wird auf zwei Prozent des Bruttoeinkommens beschränkt

Die Krankenhauszuzahlung beträgt 12 Euro, längstens 14 Tage pro Jahr

Zahnersatz: Statt prozentualer Zuschüssen werden therapiebezogene Festzuschüsse auf Grundlage von Leistungskomplexen vergütet

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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