Sie erscheinen dort, wo die Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Maschine durchlässig werden. Sie versprechen Entlastung, wo die Identitäten wanken, 'Ursprungs'geschichten trügen und der Zwang zur Eindeutigkeit unerträglich wird. Sie feiern den polymorphen Körper und das Vergessen. Sie äffen den göttlichen Vater und Schöpfer und sind doch zugleich sein Produkt. Ovid schuf sie im Marmorbild des Pygmalion, die Romantik belebte sie als Maschinenfrau, und heute geistern sie als Cyborg durch alle Höhen und Niederungen der Kultur. Die Maschine ist kein »es«, das belebt oder beseelt werden müßte, schreibt die amerikanische Feministin Donna Haraway, sondern sie ist »wir«, unsere Prozesse, ein Aspekt unserer Verkörperungen, sie bietet die Möglichkeit, »an den Grenzen zu leben«.
Cyborgs sind 'weiblich'. Nicht substantiell, sondern eben vorgestellt als das 'Andere', »die andere Möglichkeit«. Die Junggesellenmaschine Pygmalion produziert in Metamorphosen die »Gestalt einer wirklichen Jungfrau, man dächte, sie lebe, wolle sich plötzlich bewegen, sofern es die Scham nicht verwehrte. Daß es nur Kunst war, verdeckte Kunst.« Schon Ovid thematisiert das Verhältnis des Künstlers zu seinem von ihm belebten Gegenstand, die Spannung zwischen ästhetischer Technik und Imagination, kurz: Den Selbstversuch des Künstlers als Schöpfer.
Als eine solche Grenzüberschreitung im Selbstversuch könnte man das kryptische Werk von Thomas Brasch bezeichnen. Wäre das Experiment geglückt, hätte es auch die Grenzen eines herkömmlichen Romans gesprengt: Zweitausendsiebenhundert Seiten sollten angeblich am Ende stehen und damit einen Musil, Proust oder Joyce weit abschlagen. Seien wir froh: Es sind nur knapp hundert geworden, und der 1980 voreilig vorgetragene Vergleich (»Ulysses in Charlottenburg« wurde Brasch damals genannt) darf noch einmal verschoben werden.
Nach zehn Jahren Schweigen also noch einmal der Versuch des Dichters, »aus der eigenen Haut zu kommen«, wie er in Anlehnung an einen dissidenten DDR-Song formulierte. Im wahrsten Sinne des Wortes: Der Architekt D. H. (»Der Heutige«, wie Eingeweihte behaupten), schlüpft, nachdem er in der ererbten Laube seiner Ost-Großmutter einige merkwürdige Dokumente entdeckt hat, sukzessive in die Haut eines anderen, Karl Brunke. Dieser Achtzehnjährige, so stellt D. H. im Laufe der langwierigen Recherchen fest, hat im Jahre 1905 zwei Apothekentöchter »auf eigenen Wunsch« getötet und sich ein Jahr später in seiner Zelle »an einem Bindfaden« erhängt.
Hinter dem lapidaren Kriminalfall vermutet der Architekt jedoch den Skandal: Die getöteten Mädchen, so glaubt er, hätten der deutschen Öffentlichkeit nur den Vorwand geliefert, Brunkes sensationelle Erfindung zu unterdrücken. Der Banklehrling nämlich, der weder an der Bühne noch bei der Marine avancierte, beschäftigte sich damit, eine Liebesmaschine zu konstruieren, deren Ziel darin besteht, »erstens in der Durchsetzung Karl Brunkes als weltbekannten Erfinder, zweitens in der Entlastung der Käuflichen Person in Momenten der Trauer, Unbrauchbarkeit oder zunehmenden Alters sowie der Garantie eines glücklichen Lebensabends von Mutter Marie. Der Nutzen für die Menschheit muß nicht erwähnt werden.«
Für den Architekten D. H. wird Karl Brunke zur Herausforderung: Er bricht, enttäuscht und vertrieben aus dem eigenen Liebesparadies, alle Bindungen ab, macht sich auf die Spurensuche Brunkes und beschließt, in einem »Selbstversuch« das »leere Blatt« zu beschreiben oder zu sterben. Einge'fugt' in einen selbstkonstruierten »Exekutions- oder Erektionsstuhl« schreibt er Brunkes Geschichte. Dort findet ihn, selbsterdrosselt und mit doppeltem Erguß zwischen den Beinen, die »Maßnahmebehörde« auf. Was bleibt, sind zweitausend Seiten und die Aufforderung: Sucht Brunke.
Braschs Leitmotiv, das den Text zusammenzuhalten beansprucht, ist die »Fuge«. Sie fungiert als somatisches Zeichen - die Scheide, die nicht geschlossene Fontanelle Brunkes, der Spalt in D. H's. Kopf, in den sich Brunke »als Untermieter«einnistet - und als Figur der Kunst. 'Fugen' soll auch Brunkes Liebesmaschine, die - sozusagen hard- und software-liefernd - von Brunkes siebenköpfiger »Heiliger Familie« fabriziert wird. Sie soll Brunkes Kränkung heilen, den »erlittenen Verlust ersetzen«, das Dritte sein zwischen Frau und Mann«, »doch nicht käuflich, sondern herstellbar und abstellbar und brauchbar.«
Der Architekt baut Brunkes »Liebesmaschine 1-16« nach. Es sind Versuche, »sich aus sich hinauszudenken«, doch die glückliche Konstruktion der Puppen scheitert: >IchDu
Je selbstreferentieller dabei das 'System' Brunke-D.H. wird, desto monologischer der Text, in den sich nur ab und zu das Protokoll der »Maßnahmebehörde« einmischt, Distanz herstellt. Die von D.H. zunächst nur erzählte Geschichte kontaktiert Brunke als Gegenüber, bis das Ich des Autors und das Du Brunkes verschmelzen und sich ihre Schriften bis zur Unkenntlichkeit 'überschreiben'. Das »Ausrufezeichen« Brunke verliert im fragenden Autor D. H. seine Kontur ebenso wie die Geschlechtsidentitäten in der zusammengeschmolzenen idealen Liebesmaschine.
»Dies ist der Aufstieg jedes Falles, nichts ist das Ziel, der Weg ist alles.« Diese Zeile entstammt dem Gedicht »Sindbad«, das sich in Braschs bekanntem Zyklus Kargo, 32. Versuch, auf einem untergehenden Schiff aus der eigenen Haut zu kommen, findet, und sie könnte dem hybriden Paar Brunke/D.H. als Motto beigesellt werden. »Aus der Haut« schlüpft der Autor, indem er sich zum Zeugen, zum »Restaurator«, Brunkes macht und über zweitausend Seiten die »Hast aus meinem Leben und meiner Arbeit abtut«. Der atemlose Dichter schöpft Atem in sechsjähriger Anstrengung, während der er Tränen, Worte und Samenflüssigkeit »vergeblich vergossen« hat in eine Erzählmaschine, die sich am Ende erdrosselt am unsichtbaren Bindfaden der Fragen und Ausrufezeichen. Brasch, der »ewige Bräutigam oder Totengräber«, watend durch das Elend der Geschlechter, labyrinthisch auf dem Weg nach Nirgendwo.
Thomas Brasch: Mädchenmörder Brunke. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1999, 80 S., 28,- DM
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