Oft sind es die unter "Vermischtes" firmierenden Nachrichten, die den mentalen Zustand der Republik beleuchten: Seitdem die pränatale Diagnostik vom Ausnahme- zum Regelfall geworden sei, so wurde vergangene Woche gemeldet, entschieden sich die Frauen in 95 Prozent aller Fälle zur Spätabtreibung (nach der 23. Schwangerschaftswoche), wenn "Trisomie 21", also das sogenannte Down-Syndrom, festgestellt werde. Jede dritte Frau, erklärt der Medizinsoziologe Nippert, hält sogar bis zum Ergebnis der ersten Fruchtwasseruntersuchung ihre Schwangerschaft geheim.
Da heutzutage zehn Mal mehr genetische Störungen diagnostiziert als therapiert werden können, geht der Trend dahin, möglichst früh eventuelle Schädigungen am Embryo festzustellen. Im Falle einer künstlichen Befruchtung (in-vitro-Fertilisation, IVF) ist die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) bereits möglich, bevor der Embryo - also die befruchtete Eizelle nach Abschluss des achtzelligen Stadiums, wenn die Zelle nicht mehr als totipotent gilt und zu differenzierter Entwicklung fähig ist - in den Uterus transferiert wird. Dieser Entwicklungsstand ist juristisch insofern von Bedeutung, weil das deutsche Embryonenschutzgesetz Eingriffe an totipotenten (Stamm-)zellen und in die Keimbahn verbietet.
Die derzeitige Praxis der IVF besteht darin, bis zu drei Stammzellen zu befruchten. Stellt sich anhand der Frühdiagnostik heraus, dass eines oder mehrere der Embryonen Schädigungen aufweisen, ist das Elternpaar aufgefordert zu entscheiden, welcher Embryo in den Mutterleib eingesetzt werden soll. Die medizinischen und ethischen Konsequenzen sind unabsehbar: Einerseits obliegt es den Ärzten, einen potentiell zwar lebensfähigen, aber kranken Embryo zu "vernichten"; andererseits werden die Eltern genötigt, ihren Nachwuchs nach qualitativen Gesichtspunkten auszuwählen und auszusondern. Auf dieses Problem haben Kritiker des Embryonenschutzgesetzes bereits in der Diskussion vor zehn Jahren, als die diagnostischen Möglichkeiten noch nicht so weit fortgeschritten waren, hingewiesen.
Mittlerweile hat die Bundesärzteschaft reagiert und Ende Februar einen sogenannten Diskussionsentwurf zur Präimplantationsdiagnostik vorgelegt, auch im Hinblick darauf, dass diese heutzutage bereits in zehn Ländern der EU praktiziert wird. Die vorgeschlagene Richtlinie umreißt Indikation, berufsrechtliche, personelle und technische Voraussetzungen der Durchführung von PID. Die Indikation soll nur bei solchen Paaren gestellt werden, für deren Nachkommen ein hohes genetisch bedingtes Krankheitsrisiko besteht; die Geschlechtsbestimmung, das Alter der Eltern oder eine Steriltätstherapie sowie der Eingriff an Stammzellen soll ausgeschlossen bleiben.
Obwohl sich die Ärztekammer dezidiert gegen den selektiven Einsatz der PID ausspricht, kann der Sinn derselben doch offenbar nur darin bestehen, Elternpaaren zu gesundem Nachwuchs zu verhelfen. Der Hinweis, die Präimplantationsdiagnostik verhindere gegebenenfalls Spätabtreibungen und entlaste damit die Frauen, lässt sich ebenfalls kaum lesen als Schutzmaßnahme potenziell behinderter Babys, denen aufgrund von fragwürdigen Qualitätskriterien schon im embryonalen Zustand das Lebensrecht aberkannt wird.
Der Vorstoß zeugt vielmehr von der Unruhe in der Ärzteschaft, die sich von den rasanten medizinischen Entwicklungen und ihren Folgen überfordert sieht und die Diskussion an die Allgemeinheit delegiert. Statt ihre Rolle als wissenschaftliche und ärztliche Leitinstanz wahrzunehmen und das gesellschaftliche Urteil durch eine eindeutige Stellungnahme - etwa gegen den Einsatz von Präimplantationsdiagnostik - zu stützen, verschanzt sich die ärztliche Stellvertreterorganisation hinter ihrer Funktion als Informationslieferant.
Die Qualitätsauswahl in der Petrischale birgt wie die pränatale Diagnostik noch ein weiteres unterschätztes Problem, nämlich die Diagnosesicherheit des genetischen Check-up. Der Triple-(Blut-)Test, die Chorionzottenbiopsie (Untersuchung des Mutterkuchens) oder die Fruchtwasseruntersuchung bieten nämlich keine Gewähr für gesunden Nachwuchs. Entsprechend allein gelassen bleiben die Frauen, die sich einer genetischen Beratung unterziehen.
Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer hat sich mit Hinweis auf die Bestimmungen des Embryonenschutzgesetzes gegen die Präimplantationsdiagnostik ausgesprochen. Die bayrische Sozialministerin Barbara Stamm will - im Unterschied zu ihrer Bundeskollegin - darüber hinaus eine gesetzliche Änderung für Spätabtreibungen forcieren.
Die Diskussionsvorlage kann abgerufen werden unter www.bundesaerztekammer.de
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