Um Platz für seine Schöpfung zu machen, zog sich En Sof, der allgegenwärtige Gott, in sich zurück und sandte einen Lichtstrahl in den Raum, der, aufgefangen von zehn Gefäßen, das große Unternehmen in Gang setzen sollte. Doch diese versagten, die unteren sieben zerbrachen und fielen in den Abgrund. So kam das Böse in die Welt. In seinem monumentalen Werk Bruch der Gefäße (Schewirat ha-Kelim) setzt Anselm Kiefer diesen Mythos der Schöpfungskatastrophe ins Bild. Im Jüdischen Museum Berlin nimmt es nun einen ganzen Raum ein und stimmt ein in das Schicksal, das die Juden seit dem Mittelalter in Deutschland begleitet hat.
Bruch der Gefäße ist ein besonderes der mehr als 1.000 Objekte, die in der neu geschaffenen Dauerausstellung zu sehen sind. Nach 31 Monaten Schließung wird die erste, 2001 hektisch zusammengestellte Schau nun abgelöst und fast gleichzeitig präsentiert mit der neuen Museumsdirektorin, die am 1. April ihr Amt antrat. „Die Geschichte der Juden“, sagte die aus den Niederlanden stammende Hetty Berg auf der Pressekonferenz, „hat sich nicht geändert – aber unsere Perspektive darauf.“ Dem israelischen Premierminister Netanjahu passte nicht die Perspektive auf Jerusalem in der 2019 gezeigten Themenausstellung Welcome to Jerusalem, weil sie den Palästinensern zu viel Raum einräumte, und die angebliche Sympathie des Museums für die BDS-Kampagne führte nach viel öffentlichem Wirbel schließlich zum Rücktritt von Bergs international anerkanntem Vorgänger Peter Schäfer. Museumsarbeit sei immer politisch, sagte Berg in einem Interview, mit Tagespolitischem solle es sich aber nicht beschäftigen, sondern Ort für offene Debatten sein.
Das Konzept der Ausstellung heute, so Kuratorin Cilly Kugelmann, konzentriert sich auf das wechselvolle Zusammenspiel von Juden mit ihrer christlichen beziehungsweise nicht jüdischen deutschen Umwelt. Aschkenas hießen die im Mittelalter über die Alpen nach Deutschland eingewanderten Juden, die in religiöse Konkurrenz zu den Christen gerieten. So wird der erste der fünf „Epochenräume“ dominiert von den allegorischen Figuren „Ecclesia“ und „Synagoga“, die die mittelalterliche Überlegenheit des Christentums über das Judentum symbolisieren. Das Buch, das Synagoga in den Händen hält, wird Ausgangspunkt der jüdischen Gelehrsamkeit. In der Ausstellung ist es vertreten durch eine heilige Tora-Rolle aus dem 18. Jahrhundert, die das Wort Gottes offenbart.
Tora, Kabbala und dem Gebot und Gebet sind drei der acht Themenräume gewidmet, die die Epochenräume unterbrechen und das „Wesen“ des Jüdischen umkreisen. Welche Rolle spielen die Gesetze und Rituale im jüdischen Alltag, was ist den Juden heilig? Hinter Perlenvorhängen kann man sich zum Schabbat zurückziehen, in Klangkabinen religiöser oder populärer jüdischer Musik lauschen oder sich mit dem antisemitischen Richard Wagner befassen, über den Daniel Barenboim und der Intendant der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, in einem Interview Auskunft geben. Neu in der Dauerausstellung ist der Einzug der Kunst. Die 30 vorgestellten Werke – von Jakob Liepmann und Otto Freundlich über Felix Nussbaum bis Fritz Solominski – thematisieren das jüdische Selbstverständnis von den 1820er bis in die 1940er Jahre.
Hören, tasten, mitmachen
Um den vielzackigen, von engen dunklen Galerien durchzogenen labyrinthischen Libeskind-Bau bespielbar zu machen und den bedrückenden Gesamtkontext, der sich in der Architektur wiederholt, aufzulockern, haben die Ausstellungsmacher viel kreative Fantasie mobilisiert. Die kleinen lichten Inseln, von Lesearbeit stark entlastet, laden nicht nur zum Schauen ein, sondern zum Hören, Tasten (barrierefrei!) und Mitmachen. „Sind Sie der Messias“, wird in einem Selbsttest nicht ganz ernst gefragt, oder: „Wird aus Ihnen ein Zionist?“ Vier digital nachgebaute Kathedralen können (nach Corona!) mit 3-D-Brillen begangen werden. 962 auf raumhohen Fahnen abgedruckte antijüdische Verordnungen der Nazis weisen den Weg in die „Katastrophe“. Manches ist Geschmacksache wie die „Hall of Fame, in der „berühmte Juden“ verewigt sind, sie schafft aber eine Atem- und Erholungspause, um in den zweiten Teil der Ausstellung, beginnend mit dem Jahr 1933, zu wechseln. Reizvoll ist auch das digital aufbereitete, raumgroße „Familienalbum“, in dem Besucher „blättern“ und sich über die im Besitz des Jüdischen Museums befindlichen Familiennachlässe informieren können.
Die historische Abgrenzung folgt nicht den üblichen Epochenbegriffen, sondern dem Grad der jüdischen Emanzipation, angefangen von den Schutzbriefen in der Frühen Neuzeit bis hin zur formalen Gleichstellung der Juden in Deutschland 1871. Das bedeutete aber auch die Diversifizierung zwischen Orthodoxie und Reform, zwischen Assimilation und Nationalismus in Form des Zionismus. Grabsteine, die vorne deutsch und hinten hebräisch beschriftet sind, Juden in Uniform seit den Befreiungskriegen und die Herzl-Manie – es gab sogar Manschettenknöpfe mit seinem Konterfei – sind sinnfälliger Ausdruck dieses widersprüchlichen Prozesses, der hier nun vielfältig dokumentiert wird. Angenehm ist, dass der Mythos der „jüdischen Bürgerlichkeit“ nun viel weniger dominiert als in der vorangegangenen Schau, in Erinnerung bleibt aber das schöne Porträtgemälde der „Mannheimer Familie“ von Julius Moser, ein Genrebild, das das jüdische Assimilationsbestreben in Szene setzt.
Der Umgang mit dem Nationalsozialismus – für ein Jüdisches Museum so schwierig wie für ein „deutsches“, wie Kugelmann erklärt – ist fast puristisch. Das eingesetzte Material, viel Aluminium und Metall, versinnbildlicht die Kälte des Terrors, die Ausweglosigkeit und das Mordgeschehen. Konsequent wird dabei stets die Perspektive der Opfer eingenommen. Ein „Mensch ärgere dich nicht“ nachempfundenes Würfelspiel beispielsweise stellt die Hindernisse der immer schwieriger werdenden Auswanderung nach und soll Empathie auslösen. Sehr zurückhaltend wird mit den Bilddokumenten über den Holocaust verfahren, schön jedoch eine animierte Weltkugel, anhand der man die Flüchtlingsströme in alle Welt verfolgen kann.
Aus dem Grauen folgt man dann gerne einem 40 Meter langen Geländer, das die Stationen jüdischer Renaissance in Deutschland nach 1945 dokumentiert. Für die Masse von Wiedergutmachungsverfahren stehen die Aktenberge des Berliner Rechtsanwalts Dietrich Jakob. 50 Jahre lang musste Martin Friedländer um seine Entschädigung kämpfen, wie seine Akte exemplarisch zeigt. Viel Platz räumen die Ausstellungsmacher der Zeit nach 1945 ein, dem aktuellen Antisemitismus und dem schwierigen Verhältnis zu Israel. „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, leitet ein Adorno-Zitat eine dieser Stationen ein, in der die Besucher beispielsweise über Beschneidung abstimmen können oder darüber, ob das „Judensau“-Relief in der Wittenberger Stadtkirche abgebaut werden soll. Die Statements der Experten und Expertinnen legen nahe, dass es einfache Antworten nicht gibt.
Furor des Erzählens
Doch nicht durch die Debattenfreude besticht diese Dauerausstellung, sondern durch den Furor des „Erzählens“ jedes einzelnen Exponats und die ideenreiche multimediale Umsetzung seiner Präsentation. Hier werden nicht nur die Augen herausgefordert, sondern auch das verstehende Nachempfinden angesprochen. „Sie haben mein Herz berührt“, beginnt ein in einem Herz versteckter Audioclip zu erzählen. Die Geschichte handelt von der Skulptur Herzensfreundschaft von Étienne-Maurice Falconet, die Hermann Göring aus der Pariser Sammlung Rothschild für sein Jagdschloss Carinhall geklaut hatte. Nach dem Krieg galt das Stück als verloren, Rothschild wurde entschädigt. Anfang der 90er Jahre tauchten der Torso und einige Bruchstücke wieder auf. Die Arme und die Hände, mit denen die junge Frau ihr Herz hielt, blieben verschwunden.
Eine „Herzensangelegenheit“ war den Verantwortlichen spürbar auch diese Dauerausstellung, in der Objekte, aber auch Menschen, zu Wort kommen, die über ihr gegenwärtiges Leben als Juden in Deutschland erzählen und die heutige Vielfalt jüdischer Lebensweisen erlebbar machen. Vielleicht ist Museumsarbeit auch eine Form von Handeln, das in den jüdischen Ritualen eine so große Rolle spielt und nicht den Dingen, sondern dem Tun Bedeutung beimisst.
Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland Jüdisches Museum Berlin, seit 23. August 2020
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