So viel Palaver

Gesundheitskompromiss Keiner zufrieden - und der Zahltag steht noch aus

Hat die Frau ein Glück. Seit Wochen trocknet Berlin-Brandenburg unter der heißen Junisonne vor sich hin, kein Hochwasser an der Elbe, kein Deichbruch an der Oder, mehr als ein harmloser Durchbruch an der linken oder rechten Flanke eines Fußballfeldes ist derzeit nicht zu haben. Sonst würde Angela Merkels Bild vom "Durchbruch" an der Gesundheitsfront womöglich bedrohlicher klingen.

Eigentlich war die große Koalition ja angetreten, die "Finanzströme" der Gesetzlichen Krankenkassen besser zu lenken. Mit rund 143 Milliarden Euro jährlich ein gewaltiges Leitungssystem, an dem sich viele laben. Die meisten holen sich das Wasser direkt an den Zapfstellen, manche schöpfen gelegentlich auch ohne Wasserrecht, doch viel von dem kostbaren Gut versickert einfach, weil die Leitungen morsch, die Anschlüsse leck und das ganze System erheblich sanierungsbedürftig geworden ist. Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz 2004 hatte die Baustelle in Angriff genommen - mit höchst begrenzter Ingenieursphantasie. Der Anstrengung war wenig Erfolg beschieden, weil weder den Pfründen, noch den Parallelstrukturen, noch den alten Zöpfen im Medizinsystem zuLeibe gerückt wurde.

Davon abgesehen, ist die Finanzlücke der Gesetzlichen Krankenkassen kein reines Ablenkungsmanöver. Immer weniger versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, eine stagnierende Lohnentwicklung, Arbeitslosigkeit, die Abwanderung zu den Privaten und vieles mehr verantworten diese Situation. Sie wird verschärft, weil die Bundesregierung nun auch noch die Zuschüsse kürzt. All das ist seit Jahren bekannt und hat die Idee hervorgebracht, neue Quellen und Nutzer zu erschließen, alle Bürger in den Kreislauf einzubeziehen.

Dieser Idee haben die Kanzlerin und ihr Koalitionsausschuss nun definitiv eine Absage erteilt, die Privatversicherten werden nicht in das neu zu gestaltende System einbezogen. Das "Enteignungs"-Geschrei der Privatversicherer vor den Koalitionsgesprächen und ihre Drohung, vors Verfassungsgericht zu ziehen, hat bei der aus der DDR stammenden Kanzlerin offensichtlich Wirkung gezeigt. Der Kampfbegriff "Kassensozialismus" zielt eindeutig auf Angela Merkels Achillesferse, und es sind keineswegs nur die Privaten, die sie mit der Rede von der "Staatsmedizin" erpressen.

Wer es sich also leisten kann, wird weiterhin den günstigeren privaten Wasserkreislauf nutzen oder wechseln und seine Kinder über die geplante Kinderversicherung weitgehend kostenneutral "sozialisieren" können. Auch das sollten die Jungpolitiker bedenken, wenn sie jetzt die demographischen Ungerechtigkeiten des Gesundheitskompromisses beklagen. Der Gesundheitsfonds, in den künftig die lohnabhängigen Beiträge fließen und aus dem die Kinderversicherung künftig finanziert werden soll, wäre bei aller Kritik womöglich gesellschaftlich anschlussfähig gewesen, wenn er die Privaten einbezogen und Stoiber und Koch die Kanzlerin nicht zurückgepfiffen hätten. Steuererhöhung? Nein! Zumindest nicht in dieser Legislaturperiode, bis die Herren ihre Landtagswahlen absolviert haben. Niemand hat bislang verraten, wie sich der "schrittweise" Aufbau der Kinderversicherung (1,5 Milliarden 2008, drei Milliarden 2009) finanzieren lässt.

Überhaupt ist nicht mehr die Rede davon, dass die Profiteure anderer Leute Arbeit ebenfalls ihr Scherflein beisteuern könnten; Dividenden, Mieteinnahmen, kein Thema mehr, jedenfalls nicht im Hinblick auf die Gesundheitskosten; die geplante Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge wird in den allgemeinen Staatshaushalt fließen. Es tropft also weiterhin nur aus der - sinkenden - Bruttolohnsumme. Die Kopfpauschale, die der Fonds risikobereinigt für jeden Versicherten an die Kassen auszahlt, wird nicht reichen und die Kassen zwingen, von den Versicherten noch mehr Geld einzutreiben. Ob als einheitliche oder einkommensabhängige Prämie, bleibt ihnen überlassen, so wie sie künftig auch Einzelverträge mit Apotheken oder Ärzten abschließen dürfen. Davon erhofft sich die Regierung Konkurrenzstimulans; das Gegenteil dürfte der Fall sein, der Drift zur Kassenfusion, etwa bei den AOKen, ist schon jetzt deutlich erkennbar. Mehr Wettbewerb? Höchstens unter den vereinzelten Leistungsanbietern, die nun um Kassenverträge buhlen müssen.

Warum allerdings nun ausgerechnet Arbeitgeberpräsident Hundt, der Angela Merkel vorhält, sie habe mit der Anhebung der Kassenbeiträge von 0,5 Prozent den Koalitionsvertrag gebrochen, in Protestgeheul ausbricht, ist nicht recht nachvollziehbar. Gehörte nicht gerade er zu denen, die mit Nebelkerzen im Gesundheitspalaver den Kompromiss verzögerten? Und wer garantiert schon, dass 2008, wenn ein einheitlicher Beitragssatz für alle gesetzlichen Kassen eingeführt wird, dieser nicht eingefroren und alle weiteren Lasten auf die "kleinen" Kopfprämien fallen. Dies auszutesten, ist Sinn dieser Gesundheitsreform.

Sie sollte nicht klein geredet werden als "Murks" (Renate Künast) und nicht aufgeblasen zur "Staatsmedizin" (Guido Westerwelle). Ihre Ratio folgt dem, was diese große Koalition im Innern zusammenhält: Die Sorge um die Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen, die gerade wieder mit einer Senkung der Körperschaftssteuer belobigt wurden. Bedrohlich ist Angela Merkels "Durchbruch" für die, die auf solche Geschenke nicht hoffen können.

Recht könnte Künast mit ihrer Vermutung behalten, dass das ganze Unternehmen eine Reform mit aufschiebender Wirkung ist und die Koalitionäre ein "Platzhaltermodell" geschaffen haben, das sie 2009 nach den nächsten Wahlen beliebig auffüllen können. Die Koalition hat gut dosiert: Ein Pflästerchen für die Armen, die von den Kassen jetzt wieder aufgenommen werden müssen; ein kleines Piercing für die Arbeitgeber. An diesem sozialpolitischen Machwerk wird sich wohl keine Bewegung entzünden wie gegen Hartz IV. Dabei wäre das die einzige Antwort auf so viel Palaver.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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