Sozialpolitische Schizophrenie

Pflegekasse Kinderlose zahlen lassen oder Erziehende entlasten?

Sage keiner mehr, hier ginge es um einen Generationenkonflikt, der Junge gegen Alte in Stellung brächte! Das Gefeilsche um jeden Euro für die und aus den Sozialkassen macht uns BürgerInnen doch erst wieder einmal bewusst, wie sozial unterschiedlich wir kostümiert und wie wir gegeneinander auszuspielen sind: Die Akademiker sollen, hört man, nun auf ihre studienbedingten Ausfallzeiten bei der Rente verzichten, weil sie später - angeblich - ja ohnehin zu den Einkommensgewinnern gehören; den Rentnern drückt man den vollen Beitragssatz für die Pflegeversicherung auf und setzt ihre Rentenerhöhung aus; den Häuslebauern streicht man die Eigenheimzulage, die Pendler müssen sich auf niedrigere Pauschalen einstellen, und der blaue Dunst der Raucher soll sich in Pillen und Mutterschaftsgeld für die Frauen versilbern.

Um Kinder geht es auch in der neuesten Aufführung der Sozialposse "Alle gegen alle". Nach einem 2001 ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG) ist die Bundesregierung angehalten, bis 2004 der Gleichbehandlung von Eltern und Kinderlosen in der Pflegeversicherung ein Ende zu setzen. Es argumentierte, dass die Erziehungsleistung der Eltern, die mit ihren Kindern einen besonderen Beitrag für die Stützung der Sozialsysteme leisten, doppelt belastet würden. Diesem Urteil ist kaum zu widersprechen, und der Phantasie des Gesetzgebers waren seither keine Grenzen gesetzt, die betroffenen Eltern zu entlasten.

Aus dem Entlastungsauftrag des BVG ist in der Geldbeschaffungsmaschinerie der Bundesregierung jedoch etwas ganz anderes geworden: Sie hat einen weiteren Goldesel entdeckt, nämlich die kinderlosen Bundesbürger. Sie sollen nach Willen von Ulla Schmidt künftig einkommensabhängig einen bis drei Euro mehr in die Pflegekasse zahlen. Das entlastet zwar die Familien überhaupt nicht, aber mit 1,9 Milliarden Mehreinnahmen zunächst einmal die Pflegekasse und, als kleiner Nebeneffekt, auch das Haus der Ministerin, die auf diese Weise um die Rürup-Vorgabe herumkommt, die Pflegeversicherung unter zusätzlichem Beitrag der heutigen Rentner durch einen kapitalgedeckten Grundstock zu stabilisieren. Nach den gerade beschlossenen Kürzungen fürchtet die Ministerin wohl nicht grundlos Unruhe an der Rentnerfront, wenn sie den Alten noch mehr an der Rente knappst.

Nun ist es mit der Kinderlosigkeit aber so eine Sache, weil sie oft genug gar nicht freiwillig gewählt, und ihr, nachdem die Kosten für die künstliche Befruchtung demnächst nur noch zur Hälfte von der Kasse übernommen werden, schon aus finanziellen Gründen nicht mehr ohne weiteres abzuhelfen ist. Ungewollt Kinderlose könnten, also mit Klagen drohen. Deshalb verfiel das Ministerium auf den grandiosen Gedanken, auch von Eltern, deren Kinder das Haus bereits verlassen haben, den erhöhten Pflegebeitrag zu erheben. Eine sozialpolitische Schizophrenie, kam es unisono aus Parteien und Verbänden. Statt Eltern spürbar durch steuerfinanzierte Zuschüsse zu entlasten, wie es beispielsweise die Grünen fordern, würden sie eben im nachhinein dafür bestraft, Kinder großgezogen zu haben.

Nicht nur an diesem Punkt wird die Konzeptionslosigkeit des ganzen Reformschachers deutlich. Die Sozialverbände beispielsweise sagen einen heftigen Clinch mit der Ministerin voraus, wenn die Pauschalen für die stationäre Pflege zugunsten des Pflegesatzes für die häusliche Pflege abgesenkt werden sollten. Das bringt nicht nur die Träger in die Bredouille, sondern vor allem auch die Kommunen, die, so der Awo-Vorsitzende Manfred Ragati, aller Voraussicht nach mit einer Milliarde Sozialhilfe zusätzlich rechnen müssen. Auch die Krankenkassen schlagen nach den letzten Rentenbeschlüssen Alarm: Sie fürchten einen Einnahmeausfall von 273 Millionen alleine durch die Nullrunde im Jahr 2004 und sehen dadurch die Absenkung der Beiträge massiv gefährdet.

Nun haben soziale "Verschiebebahnhöfe" in allen Bundesregierungen der letzten Jahrzehnte schlechte Tradition und nicht zuletzt zur desaströsen Lage der Kranken- und Rentenkassen beigetragen. Woher der binnenkonjunkturelle Aufschwung kommen soll, wenn die BürgerInnen einerseits über immer weniger Geld verfügen, andererseits immer mehr Geld für die Sozialkassen aufbringen müssen, gehört zu den bestgehütetsten Geheimnissen dieser Regierung. Dass sich, glaubt man Umfragen, die Akademiker dennoch nicht gegen die Nicht-Akademiker aufbringen lassen, und die Kinderlosen nicht gegen Erziehende, ist eigentlich ein gutes Zeichen für das Land. Der beste Adressat für ihren Protest ist eben doch die Politik.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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