Sputnik-Schock, Version 2020

Corona Russland gelingt im Rennen um den Impfstoff ein Coup. Zwar bemängeln Forscher fehlende Tests – doch ihre Kritik ist wohlfeil
Ausgabe 34/2020
Sputnik war Anlass für Visionen – Sputnik V ist eher ein Grund zur Sorge
Sputnik war Anlass für Visionen – Sputnik V ist eher ein Grund zur Sorge

CSA Images/Getty Images

Wenn gar nichts mehr geht auf der Erde, bleibt nur der Mars. Das Space Race ist in vollem Gange, doch bis zur Besiedelung des roten Planeten müssen wir es noch auf unserem alten, siechenden aushalten, mit all seinen Risiken und Verletzlichkeiten. Einer solchen tödlichen, dem Sars-CoV-2-Virus, soll ein Impfstoff beikommen, und auch bei diesem Wettlauf geht es um das Abstecken von Claims, um nationales Prestige – und um sehr viel Geld. Wie viel, weiß niemand ganz genau. Denn neben den 7,4 Milliarden Euro plus, die die von der EU veranlasste internationale Impfstoffinitiative Gavi einsammelt, pumpen die USA und China, aber auch Russland riesige Summen in die Forschung und Entwicklung von Corona-Vakzinen.

Dass die um Reputation buhlenden Großmächte die Analogie mit dem Weltraumrennen nicht scheuen, zeigt der Name des von Russland vergangene Woche vorgestellten ersten zugelassenen Impfstoffes: Sputnik V. Der Name Sputnik weckt heroische Erinnerungen und klingt so viel sexyer als der offizielle Name Gam-Covid-Vac, mit dem das staatliche Moskauer Gamaleja-Institut vorgeprescht ist und zunächst alle anderen Konkurrenten überholt zu haben scheint.

Mit umgerechnet 46 Millionen Euro aus einem staatlichen Fonds für Direktinvestitionen finanziert, wurde Sputnik V in Rückgriff auf Vorarbeiten zu einem Impfstoff gegen die ebenfalls von einem Corona-Virus ausgelöste Infektionskrankheit MERS entwickelt – und zwar in Rekordzeit. Höchstselbst hat der russische Präsident Wladimir Putin dessen „Registrierung“ verkündet – in der internationalen Rezeption irrtümlich als „Zulassung“ in Umlauf gebracht, wie der Faktencheck des Rechercheverbunds Correctiv aufdeckte –, und erhob so das wissenschaftliche Ereignis zu einer Staatsaktion.

Der Schönheitsfehler: Sputnik V wurde bislang nur an rund drei Dutzend Personen getestet, soweit bekannt ist, vorwiegend aus dem Militär. Die für die Vakzin-Forschung unerlässliche Phase III, in der die Wirksamkeit eines Impfstoffes und längerfristige Nebenwirkungen erprobt werden, wurde ausgelassen – beziehungsweise wird nach Bekunden der Verantwortlichen erst nachgeholt. Normalerweise dauert dieser um seriöse Daten bemühte Prozess mindestens zehn Jahre. Doch mit Corona hat nicht nur die russische Forschung die Raketentriebwerke angeworfen. Mindestens sechs andere Teams, die im globalen Run auf den Impfstoff die Nase vorn haben – darunter Astra-Zeneca, das zusammen mit der Universität Oxford ein Serum entwickelt, und das deutsche Unternehmen Biontech in Kooperation mit Pfizer – versichern, alsbald einen marktreifen Impfstoff zu präsentieren. Im Unterschied zur russischen Kreation befinden sich deren Produkte bereits in Prüfphase III, die allerdings ebenfalls enorm abgekürzt wird.

Riskante Speed-Forschung

Also ist die weltweit einige Empörung auch ein bisschen pharisäerhaft. Das gilt sowohl für die schon vor der offiziellen Verlautbarung ausgeteilte Rüge der WHO, das russische Institut halte sich nicht an internationale Forschungsstandards, als auch für die in der Zeitschrift Nature vorgetragene Kritik, die Russen könnten mit ihrer Hektik das ganze Impfvorhaben gefährden – eine Massenimpfung mit einem nicht ausreichend getesteten Serum sei „unethisch“. Auch der Chef des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, beurteilte das Unternehmen als „riskant“.

„Riskant“ ist die inzwischen Speed-Forschung genannte Hochgeschwindigkeitswissenschaft aber auch in anderen Ländern. Ausgelassene oder nicht ausreichend betriebene Tierversuche, verkürzte oder zusammengelegte Versuchsabschnitte – das gilt insbesondere für die klinischen Phasen II und III – oder die Erprobung von Impfstoffen in Ländern, in denen die Kontrolle nicht in jedem Fall gewährleistet ist, sind nur Beispiele dafür. Dazu gehört aber auch das Risiko, das von bisher nie erprobten genbasierten Impfstoffen ausgeht, wie sie die deutschen Firmen Curevac oder Biotech entwickeln. Der aus Panik und Erlösungshoffnung erwachsene Druck auf die Wissenschaftlerinnen könnte dazu führen, dass Forschungsstandards abgesenkt werden. Wenn ein bestimmtes Versuchsdesign erst einmal von den zuständigen Kommissionen abgenickt wurde, hat kaum mehr jemand die Möglichkeit, die Durchführung zu überprüfen.

Und was ist mit den Sicherheitsversprechen, die Prominente oder todesmutige Freiwillige vorgaukeln? Unter propagandistisches Kalkül dürfte die Erklärung Putins fallen, seine Tochter sei mit Sputnik V geimpft worden und habe dabei lediglich „ein bisschen Fieber“ bekommen. Als Standortwerber ist aber auch der grüne Oberbürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, unterwegs, der als Proband medienwirksam an den Impfstoffversuchen des in seiner Stadt ansässigen Start-ups Curevac teilnimmt. Er wolle mit dieser Aktion Impfstoffskeptikern begegnen, erklärte er.

Geradezu religiöse Züge trägt die in den USA gestartete Kampagne „1DaySooner“, die seit April über 35.000 Freiwillige aus 150 Ländern rekrutiert hat. Sie sind in Impfstoffversuche involviert, bei denen die Probanden gezielt mit Corona infiziert werden, um die Wirksamkeit der Vakzine schneller zu erproben. Sein eigenes Leben bewusst einzusetzen, um andere zu retten, mobilisiert die Erlösungssehnsüchte vieler junger Menschen wie der aufstrebenden Wissenschaftlerin Sophie Rose, die mit ihren 22 Jahren zum Gesicht der Kampagne wurde. Die 35-jährige Historikerin Mabel Rosenheck, die eigentlich viel zu alt ist, um als Probandin eingesetzt zu werden, sagt in einem Interview, sie habe einfach etwas beitragen wollen zum Kampf gegen Covid-19.

Ob den Freiwilligen wirklich bewusst ist, was sie aufs Spiel setzen und mit welchen Folgen ihr Einsatz verbunden sein könnte? Adrian Hill, Chef des Jenner-Instituts in Oxford, das sich zusammen mit AstraZeneca beim Impfstoff-Run ebenfalls auf der Überholspur befindet, kränkeln keine Bedenken an, Freiwillige für solche Experimente zu rekrutieren. Er dürfte sich maßlos darüber ärgern, dass vorerst nicht ChAdOx1nCov-19 das Rennen gemacht hat, sondern Sputnik V. Aber das klingt einfach auch viel besser.

Scheinheilige Vorbehalte

Bei Sputnik V wurden allerdings nicht nur die über lange Zeit etablierten Forschungsdirektiven, die auf den Nürnberger Kodex von 1946 und die Helsinki-Deklaration von 1964 zurückgehen und Menschenversuche einem strengen Reglement unterwerfen, offensichtlich außer Kraft gesetzt. In diesem Fall geht das Risiko auch von der Art des Impfstoffes aus. Bei Sputnik V handelt es sich um einen Zweikomponentenimpfstoff auf der Basis von Adenoviren. Dabei schmuggeln harmlose Trägerviren (Vektoren) den Sars-CoV-2-Virus in den Körper ein, um diesen zur Produktion von Antikörpern zu animieren. Man nennt diese über eine zweimalige Impfung hervorgerufene Reaktion auch Prime-Booster-Immunisierung. Vorbild sind die Vektorimpfstoffe gegen das Ebola- und das MERS-Virus, von denen man allerdings auch gelernt hat, dass manche Probanden statt immun besonders anfällig werden für die entsprechende Infektion. Eingesetzt wurden Vektorviren übrigens auch bei den hochriskanten und mittlerweile abgebrochenen Gentherapieversuchen.

Indessen arbeiten nicht nur die Wissenschaftler am Gamaleja-Institut mit dieser viralen Verkleidungsmethode. Der genannte Impfstoff von Astra-Zeneca nutzt ebenfalls Vektorviren, ebenso wie das Vakzin des Konzerns Johnson & Johnson und der Impfstoffkandidat des chinesischen Biotechnologieunternehmens Cansino Biologics. Auch in dieser Hinsicht wirken die Vorbehalte gegen den russischen Impfstoff also ziemlich scheinheilig. In der Sache allerdings scheint es bei Vektorimpfstoffen noch viel dringlicher zu sein, wissenschaftliche Standards einzuhalten.

Ungeachtet der Risiken, die mit Sputnik V möglicherweise verbunden sind, gibt es seitens der Länder, die besonders mit Corona kämpfen, durchaus Interessenten. Der brasilianische Bundesstaat Paraná will mit Russland einen Abnahmevertrag abschließen. Dort hoffen die russischen Wissenschaftler auf eine „technisch-wissenschaftliche Kooperation“, die die Möglichkeit eröffne, den Impfstoff zu testen und für die brasilianische Bevölkerung zu produzieren, wie der dortige russische Konsul äußerte. So wie einige afrikanische Länder ist Brasilien das bevorzugte Versuchsland für die globalen Impfstoff-Produzenten, weil das Virus dort stark aktiv ist. Auch Astra-Zeneca ist hier prüfend unterwegs, was deshalb brisant ist, weil WHO und EU besonders auf deren Impfstoff setzen. Auf welche Weise in Brasilien Probanden rekrutiert werden und unter welchen Bedingungen die Versuche dort stattfinden, steht auf einem anderen Blatt.

Interessiert haben sich aber auch die Philippinen und die Vereinigten Arabischen Emirate gezeigt. Vietnam, das an einem eigenen Impfstoff arbeitet, hat eine kleine Zahl von Impfstoffdosen bestellt. Die israelische Regierung, mitten in einer zweiten Corona-Welle und unter Druck von Protesten, soll ebenfalls abnahmewillig sein. Präsident Putin hat außerdem erklärt, dass sich Probandinnen und Probanden aus dem Ausland für die Phase-III-Prüfung in Russland gemeldet hätten.

Für den mit Putin und der ganzen Welt rivalisierenden Donald Trump ist der russische Sprint eine politische und geschäftliche Herausforderung. Der amerikanische Präsident hat angekündigt, die Impfstoffproduktion im eigenen Land nun forcieren zu wollen. 100 Millionen Impfstoffdosen will er sofort herstellen lassen, sobald das erste Serum zugelassen ist. Das ist gegenüber der einen Milliarde Impfdosen, für die Russland angeblich Anfragen in seinen Auftragsbüchern verzeichnet, bescheiden.

Bei der Vorstellung jedoch, dass ein nicht ausreichend erprobter, von unbekannten Nebenwirkungen begleiteter Impfstoff milliardenfach verimpft wird, kann einem nur gruseln. Egal, ob eine solche Impfrakete Sputnik heißt oder Supertrump.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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