Stadt der 1000 Fragen

Aktion "Wohin Gen" Zum Abschluss präsentiert sich die Hauptstadt bescheiden als Fragende

Intelligent ist, wer die richtigen Fragen stellt, pflegte einer meiner Lehrer zu sagen, wenn er mal wieder eine falsche Antwort bekam. Stumm bleibt, würde "Aktion Mensch" erwidern, wer gar keine Fragen stellt. Und dumm ist, wer vorschnelle Antworten gibt. Achteinhalb Tausend Fragen - und damit viel mehr als angestrebt - und gar 35.000 Antworten und Kommentare waren es, als das von der deutschen Behindertenhilfe eröffnete bioethische "Buch der 1000 Fragen" am 7. August seinen Deckel schloss; oder besser gesagt offline ging, denn es handelte sich um eine technisch ganz zeitgemäße Initiative, die die billigen, schnellen und unbürokratischen Möglichkeiten des Internets nutzte. Kein Wunder deshalb ist es, dass die halbe Million Menschen, die die Website seit März besuchte, jung, sehr jung war - im Durchschnitt 26 Jahre alt, wie die Pressesprecherin von "Aktion Mensch", Heike Zirden, mitteilt.

Muss ich mich schuldig fühlen, wenn ich eine Sehbehinderung weiter vererbe?, fragen beispielsweise die jungen Leute. Und die Älteren: Wären Sie da, wenn Ihre Eltern Ihr Kind hätten planen können? Was macht ihr denn, wenn das perfekte Wunschkind bei der Geburt dann doch noch beschädigt wird? Und: Wann ist der Mensch tot? Wenn die Apparate abgestellt werden? Wer einmal das Abenteuer unternommen hat, das Portal von "1000 Fragen" zu passieren, bekommt einen Eindruck von der allgemeinen Verunsicherung in dieser Republik, wenn es um Geburt und Sterben, Perfektion, Normalität und "Beschädigung", wissenschaftliche Möglichkeiten und ihre Grenzen - kurz: Leben und Tod geht. Und eine Ahnung von der dramatischen Desinformiertheit.

Als im vergangenen Jahr der Nationale Ethikrat Experten befragte, saß eine Schulklasse im Auditorium, die der Diskussion aufmerksam folgte und sich eifrig Notizen machte. In der kurzen Mittagspause unterhielt ich mich mit einigen Schülern und Schülerinnen, und ich war betroffen. Ja, sie hätten der inhaltlich anspruchsvollen Diskussion ganz gut folgen können, und sie sähen auch, dass das Thema schwierig sei und kontrovers diskutiert würde. Schließlich gab eine Schülerin zu bedenken, sie verstehe schon, dass behinderte Menschen wollen, dass niemand darüber bestimmt, ob sie leben dürfen. "Aber", setzte sie hinzu, "wenn ich in einer solchen Lage wäre und mir gesagt wird, dass ich vielleicht ein behindertes Kind bekommen werde, also, ich glaube schon, ich wüsste, was ich dann täte." Ich habe damals nicht nachgehakt, was genau sie meint, denn es lag auf der Hand. Zumindest in dieser konkreten Minute hätte sich das Mädchen für eine Abtreibung entschieden.

Ich habe damals aber auch nicht nachgehakt, was sie meint, wenn sie "vielleicht" sagt. Ob sie einfach nur so dahergeredet oder sich bewusst darüber war, dass diagnostische Prognosen unverlässlich und fiktiv sind; so unwägbar wie die Gefühle, mit denen sich eine schwangere Frau in der pränatalen Beratung, ein sterbender Mensch auf der Intensivstation oder jemand, der um das Organ eines Angehörigen angegangen wird, auseinandersetzen muss.

Die bioethische Debatte ist im vergangenen Jahr ins Abseits geraten. Kaum mehr war es eine Meldung wert, dass sich im Bundestag eine zweite Bioethik-Enquete konstituierte; und so lange uns die Grundlagenforschung weitere "sensationelle" Neuigkeiten schuldig bleibt, uns mit angeblichen Klonkindern in die Irre führt oder mit traurigen Todesnachrichten - Dolly - aufwartet, beschäftigen auch wir uns eher mit den Lebenden, den Jungen und Alten und (un)gerechten Verteilungen. Vergessen wird dabei - vielleicht - dass sich eine Gesellschaft immer daran messen lassen muss, wie sie mit ihren schwächsten Teilen umgeht? Zu Zeiten August Bebels, der diesen Maßstab verordnete, waren das vermeintlich die Frauen; heute sind es die Kinder, Alten, Gebrechlichen, Beschädigten.

Dass sie uns nicht nur abverlangen, sondern uns viel zu sagen haben, Unbequemes, Aufwühlendes und auch Falsches, ist in den 1000 Fragen enthalten, die ab 18. September das öffentliche Leben Berlins bestimmen werden. Und nicht zuletzt in der Kunst, in Film, Theater, Kabarrett.

Weitere Infos und Programm: www.1000fragen.de; www.aktion-mensch.de

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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