Sterben nach Vorschrift

Ethik Erstmals wird dem Staat erlaubt zu entscheiden, wann ein Leben zu Ende gehen darf
Ausgabe 10/2017
Staatsangelegenheit oder Privatsache? Die ärztlich assistierte Selbsttötung
Staatsangelegenheit oder Privatsache? Die ärztlich assistierte Selbsttötung

Foto: IPON/imago

Autonomieverlust ist in einer Gesellschaft, die Unabhängigkeit zu ihren erstrebenswertesten Zielen erklärt, ein wenig beglückendes Szenario. Auf die Hilfe Fremder angewiesen zu sein, scheint dabei vielleicht noch erträglicher, als auf die unmittelbare Umgebung, der man sich und sein Leid nicht zumuten möchte. Dass in solchen Situationen bei manchen Betroffenen der Sterbewunsch überhandnimmt, der eigene Tod als der allein mögliche gangbare Ausweg erscheint, ist menschlich. Aber darf der Staat, dem es aufgegeben ist, das Leben zu schützen, dabei helfend die Hand reichen? Darf er bei einer Selbsttötung assistieren, indem er die tödlichen Medikamente liefert?

Die Richter des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts haben das in einer aufsehenerregenden Entscheidung vergangene Woche bestätigt und damit mit einem ehernen Grundsatz gebrochen. Dabei war der verhandelte Fall gar nicht mehr akut, denn die vom Hals an querschnittsgelähmte Patientin aus Braunschweig, die 2004 beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte eine tödliche Medikamentenmischung bestellt hatte, um ihr Leben zu beenden, lebt seit zwölf Jahren nicht mehr. Sie hatte, als das BfArM die Lieferung verweigerte, 2005 den Weg in die Schweiz genommen und dort um Sterbehilfe nachgesucht.

Doch das vom Ehemann weiter betriebene komplizierte Verfahren, das von deutschen Gerichten jahrelang gar nicht angenommen worden war, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2012 entschied, dass die Klage zu prüfen sei, landete am Ende doch noch vor dem Verwaltungsgericht. In Ausnahmefällen, kamen die Richter zur Entscheidung, sei der Erwerb eines tödlichen Betäubungsmittels zulässig, dann nämlich, wenn „keine zumutbare Alternative“ – etwa palliativmedizinische Maßnahmen – zur Verfügung stünde. Den Betroffenen darf, heißt es, „der Zugang zu einem verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmittel nicht verwehrt werden“. Dies hätte das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte zumindest zu prüfen gehabt.

Im Mittelpunkt des Leipziger Urteils stehen dabei zwei Rechtskonstrukte. Zum einen insistieren die Bundesrichter auf der angenommenen Ausnahmesituation, die im konkreten Fall, wie im Urteil eingeräumt, gar nicht mehr festzustellen ist. Was ist eine zumutbare, was eine unzumutbare Lage – und für wen? Wer ist befugt, sie objektiv zu beurteilen? Zum anderen rekurrieren die Leipziger Richter auf das Selbstbestimmungsrecht, das jedem Einzelnen bei freiem Willen überlässt, ob und wann er sterben will. Bislang allerdings hat sich der Staat beim Suizid herausgehalten und das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte explizit darauf verwiesen, dass das Betäubungsmittelrecht die Bereitstellung tödlicher Medikamente nicht abdeckt. Im Unterschied zur erlaubten passiven oder indirekten Sterbehilfe – etwa mittels Abschalten von Apparaten oder der Gabe von schmerzlindernden Medikamenten, die das Sterben beschleunigen können – handelt es sich im verhandelten Fall um eine Handlung, die das Ziel hat, den Tod eines Menschen herbeizuführen. Ein Paradigmenwechsel, sagen Kritiker, die die Selbsttötung zur normalen Option und den Staat zu deren Komplizen werden lässt.

Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, erklärte, es sei ihm unverständlich, „dass eine so grundsätzliche ethische Frage wie die der ärztlich assistierten Selbsttötung auf einen bloßen Verwaltungsakt reduziert werden soll“. Er fürchtet, dass das Leipziger Urteil in der Praxis zu „Verwerfungen“ und einer „unverantwortlichen Bürokratieethik“ führt. „Welcher Beamte“, gibt Montgomery weiter zu bedenken, „soll denn entscheiden, wann eine ‚extreme Ausnahmesituation‘ vorliegt?“

Doch eben diese „Bürokratisierung der Ethik“ ist mit der Einrichtung von Ethikkommissionen und -räten schon längst im Gange und befördert einen verwaltungstechnischen Umgang mit dem Leben, dessen Folgen noch gar nicht absehbar sind.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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