Synzytial-Virus: Kinder müssen erneut ausbaden, was Erwachsene verbockt haben

Meinung Derzeit schniefen und husten sieben Millionen Menschen in der Republik. Die dramatischen Engpässe in den Kinderkliniken haben allerdings nichts mit der derzeitigen Infektionswelle zu tun
Drei Jahre nach Pandemiebeginn nehmen „normale“ Atemwegs- und Grippeviren deutlich zu
Drei Jahre nach Pandemiebeginn nehmen „normale“ Atemwegs- und Grippeviren deutlich zu

Foto: Imago/Panthermedia

Unsere Unbekümmertheit ist weg: Sars-Cov-2 hat uns gelehrt, Erkältungssymptomen hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Es hat uns unser Gesicht verhüllt, in die Testcenter getrieben und vorgeführt, dass nicht nur wir, sondern auch unser Gesundheitssystem krank ist.

Derzeit schniefen und husten sieben Millionen Menschen in der Republik, viel mehr und viel früher als vor der Pandemie. Schon im September zeichnete sich ein saisonal ungewöhnliches und hohes Ansteckungsgeschehen ab. Nun laufen Praxen voll, Erkältungssäfte werden knapp, verzweifelte Eltern suchen einen Kinderarzt oder liefern ihre Sprösslinge in überfüllten Kinderstationen ab, weil das respiratorische Synzytial-Virus (RSV), das gerade die Jüngsten angreift, besonders schlimm zugeschlagen hat. Manche Kleinkinder müssen sogar beatmet werden.

Aber auch Erwachsene sind von den verschiedenen, gleichzeitig kursierenden Viren betroffen. Bereits im Oktober meldeten die Krankenkassen steigende Krankenstände, was allerdings auch darauf zurückzuführen sein kann, dass die Möglichkeit der einfachen telefonischen Krankschreibung bis März 2023 verlängert worden ist.

Die gute Nachricht dabei ist, dass die derzeitige Welle nicht Corona bedingt ist, obwohl auch hier die Infektionszahlen – nach einem längeren Trend nach unten – wieder ansteigen. Vielleicht hat der Engel der Verkündigung, Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) einmal mehr Recht mit seiner Prognose einer bevorstehenden Winterwelle.

Immunität durch Isolation zurückgegangen

Was die Leute aber jetzt anfällt, sind Atemwegs- und Grippeviren, die in den drei hinter uns liegenden Corona-Jahren sozusagen „geschlafen“ haben, weil wir als ihre Wirte isoliert und geschützt gelebt haben. Dadurch ist die zyklisch sich ausbildende Immunität, die durch eine alle drei bis fünf Jahre auftretende Infektion ausgebildet wird, zurückgegangen.

So gesehen, waren die Corona-Maßnahmen mit ein Grund, dass Erkältungs- und Grippeerkrankungen so stark ansteigen. Oder auch umgekehrt, die Rückkehr zur Normalität und das Fallen der Masken setzt die Menschen wieder einem größeren Ansteckungsrisiko aus. Ob die durch die Energiekrise erkalteten Wohnungen und Büros die Erkältungsdynamik forcieren, wird dabei wohl ebenso ein Geheimnis bleiben wie die Frage, was hinter den heimischen Wänden passiert, seitdem das Homeoffice selbstverständlich ist und die Beschäftigten auch von zu Hause aus arbeiten können.

Die dramatischen Engpässe in den Kinderkliniken allerdings haben nichts mit der derzeitigen Infektionswelle zu tun und auch nichts mit Corona, es ist eine Krise mit Ansage. Schon 2019 gab es alarmierende Berichte über Kliniken, die ihre Kinderstationen geschlossen haben oder zumindest Betten stilllegten.

Der Hintergrund: Für Kliniken war es lukrativer, Erwachsene zu operieren, als Kinder langwierig auf Stationen zu betreuen. Viele Krankenhäuser waren und sind auch dazu gezwungen, Geld zu generieren, weil die Länder keine Mittel für notwendige Bau- und Investitionsmaßnahmen bereitstellen. So müssen die Kinder – wie schon während der Pandemie – wieder einmal ausbaden, was Erwachsene verbocken. Das haben sie nicht verdient.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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