Das Bild der Welle hat Konjunktur. Wir fürchten europaweit die zweite Welle von Covid-19, und viel ist dieser Tage die Rede von der zweiten Protestwelle, die der ersten, gegen die „Flüchtlingswelle“ gerichteten folgt. Die Welle ist deshalb eine so eingängige Metapher, weil sie naturwissenschaftlich evident ist, aber auch sinnfällige Anschauung in der Natur hat. Wir sehen die Welle an einem großen See oder am Meer, aber mit welcher Beschleunigung sie unterwegs ist, welchen Drift ihre Masseteilchen entwickeln, nehmen wir nur intuitiv wahr; ihre Dimension zu berechnen, ist indessen kompliziert, je nachdem, ob wir an seichten oder tiefen Wassern stehen.
Übertragen auf das, was uns im sozialen Leben derzeit umtreibt, die Ausbreitungsgeschwindigkeit sowohl der Pandemie als auch des Protests, stochern wir ohnehin in Untiefen. Weder die Epidemiologie noch die Protestforschung kann verlässlich den Punkt bestimmen, an dem wir noch einmal überrollt werden von der Krankheit, und auch nicht, welche politischen Strömungen uns demnächst an welche Ufer treiben. Überlisten das Virus und die Unzufriedenheit alle Theorien und strömen zusammen? Seitens der Epidemiologie ist nicht einmal klar, was die zweite Welle bedeutet, es gibt dafür keine wissenschaftlich exakte Definition. Meint sie den Wiederanstieg der Infektionszahlen, wie wir ihn derzeit vielerorts in Europa beobachten? Nein, sagt die Weltgesundheitsorganisation, denn Wellen kommen mit unterschiedlichen Peaks daher. Die WHO geht davon aus, dass wir erst an der zweiten Infektionsspitze der ersten Welle angelangt sind. Möglicherweise werden wir auch erst von einem überlasteten Gesundheitssystem oder gar einem zweiten Lockdown überrollt. Das ist je nach Standpunkt Interpretationssache, Mediziner beurteilen das anders als Ökonomen. Oder gar Demonstrierende.
Was wir derzeit wissen: Es gibt wieder mehr Erkrankte, die aber seltener sterben. Das hat offenbar mit dem sinkenden Alter der Infizierten zu tun. In den USA wurden Ende Juli doppelt so viele Infektionsfälle gezählt, aber nur noch halb so viele Opfer, ähnlich wie in Großbritannien. In Deutschland stehen deshalb seit Monaten vorgehaltene Betten in den Intensivstationen leer. Wird die nächste Welle also flacher verlaufen, weil, auch das lediglich eine Theorie, das Virus weniger aggressiv geworden ist oder es besser behandelt werden kann? Sattelfeste Indizien gibt es nicht. Mit einem Impfstoff, so der Virologe Hendrik Streeck stellvertretend, sollten wir für den Herbst allerdings nicht rechnen. Aber selbst wenn: Eine kürzlich in den USA veröffentlichte Modellrechnung zur Verteilung der noch gar nicht verfügbaren Impfstoffe ist aufschlussreich. Seren mit hoher Wirksamkeit, so der Vorschlag der Forschergruppe, sollen jungen Menschen zugutekommen; Impfstoffe, die weniger wirksam sind, bleiben älteren Menschen vorbehalten.
Der kommende Herbst und der Winter werden zeigen, dass das Virus vorerst nicht „besiegbar“ ist, sondern wir mit ihm werden leben müssen. Dann nämlich, wenn Grippe- und Coronawelle aufeinandertreffen und noch nicht berechenbare Zerstörungskraft entfalten. Die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides wirbt schon jetzt für mehr Grippeimpfungen, Gesundheitsminister Jens Spahn will 25 Millionen Impfdosen bevorraten, so viele wie noch nie. Die vergangene Grippe-Saison verlief so glimpflich, dass sie vorfristig offiziell beendet wurde. Was, wenn sich Viren, Mediziner und Impfgegner auf der „Welle“ treffen, egal, welche wir dann zählen?
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