Erinnerungen sind nicht steuerbar. Was aus den Sedimenten des Verdrängten oder Verschwiegenen ins kollektive Gedächtnis aufsteigt, folgt keiner Verabredung. Als in den neunziger Jahren der Bombenkrieg in die Erinnerungskultur zurückkehrte, hatte Dresden auch bis dahin schon des 13. Februar 1945 gedacht. Von einer breiteren Öffentlichkeit wurde das aber nur wahrgenommen, wenn Nazis dort ihren Feuerzauber inszenierten. Auch über Flucht und Vertreibung wurde schon früher in den Familien gesprochen, doch signifikant für den Blick auf deutsche Geschichte wurde beides erst in den letzten Jahren.
Wann und wie geschichtliche Ereignisse bedeutsam werden, hängt also von den Umständen ihrer Vergegenwärtigung ab. Allerdings gibt es immer schon Leute, die den historischen Fundus ausbeuten, um mit den gefühlig aufgeladenen Teilstücken der Geschichte Politik zu machen. Die Rechtsradikalen nutzen die Dresdner Bombennacht für ihre trüben Fischzüge; die überdauernde Frontstadt-Mentalität Berlins besteht auf der Fortexistenz der Birthler-Behörde; und die Vertriebenenverbände mit ihrer Vorgeherin Erika Steinbach wühlen in der Wunde der Vertreibung.
Nach all den Querelen um die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ haben sie gerade einen Punktsieg errungen: Union und FDP haben sich für einen Gedenktag am 5. August ausgesprochen, der in den Worten des CDU-Generalsekretärs Hermann Gröhe „an das millionenfache und unsägliche Leid der Vertriebenen“ erinnern soll.
Aledia Assmann
Am vergangenen Montag veröffentlichten nun 68 renommierte Historiker einen Aufruf gegen das Vorhaben. Zu Recht. Einmal davon abgesehen, dass die Inflation von Gedenktagen möglicherweise das entwertet, was erinnert werden soll, provozieren Anlass und Datum: Am 5. August 1950 unterzeichneten die Heimatvertriebenen eine schon damals umstrittene Charta, in der sie ihren „Verzicht auf Rache und Vergeltung“ erklärten. Das empört nun nicht nur die Opposition, sondern auch den Zentralrat der Juden und die polnischen Nachbarn, die in dem Dokument gerade keine Grundlage für eine Versöhnung sehen. Es blende, so die Kritik, nicht nur das Leid der nicht-deutschen Opfer des NS-Staates und die Mitverantwortung an der Vertreibung aus, sondern verdrehe auch die historischen Tatsachen, weil einem Volk, das bedingungslos kapituliert habe, kein „Verzicht auf Rache“ zukäme.
Die Umschreibung der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsgeschichte ist nicht neu. Verschweigen, aufrechnen und umfälschen waren von jeher gängige Strategien. Doch erst der Umbau der kollektiven Erinnerung von einer Gewinner- und Verlierergeschichte in eine die Menschheit umspannende Opfergeschichte in der Nachfolge des Holocaust schuf die Voraussetzung, dass das verdrängte Täterbewusstsein seinen Anteil am Opfermythos beanspruchen kann. Die Erinnerungsforscherin Aleida Assmann hat gezeigt, wie mit zunehmender Emotionalisierung der Erinnerung das „Volk der Täter“ in ein leidendes umgedeutet wird. Sie vermutet, dass gerade die Erzählung von Flucht und Vertreibung geeignet sei, einen neuen nationalen Mythos, der Ost und West überbrückt, zu stiften.
Wenn über 65 Jahre nach Kriegsende die Erfahrung der Vertreibung kommunizierbar und medial ausdeutbar wird, ist das zunächst kein Problem; trau- matische Erfahrungen können häufig erst von der übernächsten Generation erinnert werden. Wird daraus eine Opferlegende, bleibt die Tat tabuisiert. Mit Folgen auch für die Nachgeborenen.
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