Mit dem Krankenhaus vor Ort sei ein Stück Heimat verbunden, ließ Gesundheitsminister Jens Spahn kurz nach seinem verpassten Sprung ins Verteidigungsministerium wissen. Ein erstaunliches Statement für einen zwar aus der tiefen Provinz stammenden, sich aber als coolen Metropolen-Fisch gerierenden CDU-Politiker. Anlass war eine Bertelsmann Studie, die hohe Wellen schlug: Die Wissenschaftler halten rund 800 der 1.400 Krankenhäuser in Deutschland für überflüssig, ihre weitere Subventionierung gehe auf Kosten der Patienten, weil sie schlecht ausgestattet und keine ausreichende medizinische Qualität mehr garantieren könnten – manchmal mit tödlichen Folgen wie etwa im Fall von Herzinfarkt. Also lieber wie in Dänemark mit dem gut ausgerüsteten Rettungswagen lange Wege in Kauf nehmen oder eher das Risiko, dass es vor Ort keine Koronarangiografie gibt?
Paradoxerweise, darüber gibt die Studie, die sich an der Modellregion Köln/Leverkusen abarbeitet, nicht so ausführlich Auskunft, sind die ostdeutschen Länder besser aufgestellt als westdeutsche. Durch den Klinikkahlschlag nach der Wende, der in großem Stil zu Bettenabbau geführt hat, arbeiten viele Häuser, oft privat geführt und mit schlechteren Haustarifverträgen, durchaus kostendeckend. Sachsen etwa verfügt, gemessen an der Bevölkerung, nur über halb so viele Krankenhäuser wie Nordrhein-Westfalen. Und dennoch: Die Studie ist geeignet, in den Regionen Angst zu säen, bei der Bevölkerung und bei Politikern. Ein Krankenhaus ist mehr als nur eine medizinische Einrichtung, es ist unter anderem auch ein Standortvorteil (siehe unten stehendes Interview sowie den Kulturaufmacher auf S. 21).
Ob Spahn das Heimatversprechen, das er den Regionen gegeben hat, einhält, sei dahingestellt. Immerhin hat er dafür gesorgt, dass ab 2020 rund 120 Krankenhäuser mit je 400.000 Euro subventioniert werden, seine Umstruktierung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) wird vielleicht tatsächlich etwas mehr Transparenz ins Abrechnungswesen bringen – und vielleicht fällt beim Minister-Fischzug durch den Kosovo auch noch die eine oder andere Pflegekraft ab. Freuen dürfte die Kliniken auch, dass durch die gerade öffentlich gewordenen Reformpläne für die Notfallversorgung viele Patienten die Notfallaufnahme erst gar nicht mehr erreichen, sondern auf Privatpraxen „umdirigiert“ werden. Doch viele der Sprengsätze, die Spahn quasi im Minutentakt aus seinem Ministerium schleudert und kurzfristig mit entscheidenden Sprengverstärkern versieht, können von der Öffentlichkeit – und leider auch vom Parlament – gar nicht mehr in ihrer Tragweite und Richtung überprüft und beurteilt werden.
Was zahlt die Kasse?
Was die Richtung angeht, muss man nur einige Schnittstellen seiner in den vergangenen Wochen im Kabinett vorgestellten und ins Verfahren gebrachten Gesetze in den Blick nehmen. Mit dem sogenannten Faire-Kassen-Gesetz hat Spahn insbesondere die Allgemeinen Ortskrankenkassen und ihren Chef im Bund, Martin Litsch, gegen sich aufgebracht. „Machtpolitischen Zentralismus“ sieht dieser im Plan des Ministers, die regionalen AOKs bundesweit zu öffnen und die Ortskrankenkassen in Konkurrenz treten zu lassen. Ähnliches gilt für die ebenfalls regional organisierten Innungskrankenkassen. Mehrere Ministerpräsidenten, darunter Markus Söder (CSU), haben sich öffentlich gegen den Eingriff in die föderale Versorgung verwahrt. Hintergrund ist, dass den Ländern damit die Kassenaufsicht gänzlich entzogen würde.
Gleichzeitig greift das Gesetz tief in die Selbstverwaltungsstrukturen der Sozialversicherung ein, aus „Professionalisierungsgründen“. Wurden über die Sozialwahlen bislang viele Ehrenamtliche – also Vertreter der Gewerkschaft oder Patientenvertreter – in die Verwaltungsräte der GKV-Gremien gewählt, sollen künftig nur noch Hauptamtliche dort vertreten sein. Das wäre ein eklatanter Eingriff in die Mitbestimmungsrechte der Bürger. Spahn, so Doris Pfeiffer vom GKV-Spitzenverband, kündige damit einen Grundkonsens der seit 1883 bestehenden Sozialversicherung auf. Spahns Angriff auf die Macht der Sozialversicherung lässt sich auch ablesen an der „unfreundlichen“ Übernahme der Gematik durch das Gesundheitsministerium – bis vor Kurzem noch ein Unternehmen der Spitzenverbände, damit beauftragt, die digitale Gesundheitsvernetzung umzusetzen. Doch längst geht es nicht mehr um die seit Jahrzehnten dahinsiechende elektronische Gesundheitskarte (eCard), sondern um die viel weiter reichende Gesundheitsakte (e-Akte). Auf dem Hauptstadtkongress im Mai drohte der Minister allen Ärzten, die sich diesem System verweigerten, nachdrücklich mit Honorarkürzungen. Das Digitalgesetz ist jedoch nicht nur bei den Ärzten umstritten. Datenschützer warnen vor unsicheren Systemen und der völligen Aushebelung des Datenschutzes. Denn über die Unmengen von Daten, die auf der e-Akte gespeichert würden, hätten Patienten vorerst gar keinen Zugriff, weil die Gematik Spahns ehrgeiziges Ziel, die Digitalisierung bis 2021 zu realisieren, zeitlich sonst verfehlen würde. Frei flottierende, hochsensible Gesundheitsdaten von allerhöchstem Verwertungswert: Der Krimi, der daraus Schreckensszenarien ableitet, wird sicher gerade geschrieben.
Dass Spahn zwischendurch wiederholt versucht hat, die langwierige Methodenbewertung im Gemeinsamen Bundesauschuss auszuhebeln und per Direktivrecht darüber zu entscheiden, was von den Kassen bezahlt wird und was nicht – etwa der Praena-Test zur vorgeburtlichen Bestimmung von Erbkrankheiten –, passt in die gesamte Entmachtungsstrategie. Auch die Ausgliederung des Medizinischen Dienstes aus den Krankenkassen – also das gesamte medizinische Begutachtungswesen, auch in der Pflege – ordnet sich dem unter. Mit der „neutralen Begutachtung“ rennt der Gesundheitsminister zwar offene Türen bei Verbraucherschützern und Patientenvertretern ein, doch das ist eher ein Nebeneffekt seines „Teilens und Herrschens“. Das ganze Getöse um die Masernimpfpflicht, mit der Spahn ganz nebenbei auch den Deutschen Ethikrat brüskierte, der davon abriet, und nun die Aufregung über die Studie der Bertelsmann Stiftung, überblendet und vernebelt, was dieser sich selbst überholende Turbo-Politiker auf gesundheitsadministrativer Ebene verfolgt. Und sei es nur, um sich als „Durchgreifer“ zu profilieren.
Mag der Mann auf dem „Schleudersitz“, wie das Gesundheitsministerium oft verhöhnt wurde, auch einige Lobbyisten etwas ins Schleudern bringen: Wer sich darüber freut, verkennt, dass viel mehr auf dem Spiel steht. Und auffällig ist, dass sich der so markige Spahn weder an die Pharmaindustrie noch an die Apotheker herantraut, sondern im Gegenteil für Letztere im geplanten Apothekenstärkungsgesetz sogar in die Bresche springt und unter anderem Wohltaten wie Arzneimittelrabatte im Versandhandel verbieten will. Sein Verständnis für das Wohl und Wehe der Apotheker ist so groß, dass er sich sogar mit den Kabinettskollegen aus Wirtschaft und Justiz und mit der mächtigen EU-Kommission anlegt, die mit einer Klage wegen Wettbewerbsverstoßes droht. Aber vielleicht sitzt Spahn dann schon auf einem anderen Sessel – oder eben in seiner Heimat, in die ihn der Schleudersitz hievt.
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