Taube Brüder

Migration Der Papst erinnert auf Lampedusa an verunglückte Flüchtlinge. Es ist kein Ruhmesblatt für die Gesellschaft, dass sie ihn braucht, um die Fremden nicht als Feinde zu sehen
Ausgabe 28/2013
Besuch mit Signalwirkung: Papst Franziskus auf der kleinen Insel etwa 130 Kilometer vor Tunesien
Besuch mit Signalwirkung: Papst Franziskus auf der kleinen Insel etwa 130 Kilometer vor Tunesien

Foto: Andreas Solaro/ AFP/ Getty Images

Viele öffentlichen Plätze und Stadien, erleben wir dieser Tage, sind auch Schauplätze der politischen Aktion. Wo diese Orte früher missbraucht wurden, um die Massen aufzuhetzen oder zusammenzutreiben wie in den lateinamerikanischen Stadien die desaparecidos, erobern sich die Menschen nun überall die Agora zurück.

Es war also auch eine symbolische Geste, dass Papst Franziskus im kleinen Stadion von Lampedusa, diesem Eiland zwischen Europa und Afrika, seinen Gottesdienst ausrichtete. Für die Flüchtlinge aus den Bürgerkriegsregionen ist diese Insel ein Ort der Hoffnung und Tragik zugleich. Von einem aus Rudern gefertigten Pult herab erinnerte der bibeltreue Pontifex an die ertrunkenen Unglücklichen, an die Verantwortung der Wohlstandsgesellschaft und geißelte ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Schreien „des Bruders“, die über das Meer hallen.

1.500 Flüchtlinge kommen jedes Jahr über das Mittelmeer ins Gelobte Land, wo sie um Asyl bitten und um bescheidene Existenz. Wie viele gar nicht anlanden, weil sie mit maroden Booten unterwegs sind oder in Seenot geraten, ist nicht bekannt. Der alttestamentarische Exodus war mit einer Heilsgeschichte verbunden; der neuzeitliche verweist auf eine Enttäuschungsgeschichte: Der sich bedroht wähnende Bruder stellt sich taub.

Er erinnert sich nicht mehr daran, dass Europa einmal Schauplatz von Völkerwanderungen war. Dass der „fremde Gast“ einer war, der bleibt und in dessen ekstatischer Fremdheit man sich selbst erkennen konnte. Später dann ist der Fremde der „Rivale vom anderen Ufer“, wie der Philosoph Blaise Pascal sagte. Einer auf der Schwelle, dem man Gastfreundschaft verweigert und den man auf abgelegenen Inseln interniert und manchmal auch in Stadien.

Es ist kein Ruhmesblatt für die Zivilgesellschaft, dass sie einen gar nicht ins 21. Jahrhundert passenden „Papa“ benötigt, um den Fremden nicht nur als Feind zu erkennen. Der Vatikan ist aber auch viel zu klein, um alle aufzunehmen. Und er machte oft, auch daran sei erinnert, keinen Unterschied zwischen Unterdrückten und flüchtenden Mördern.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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