Verlockend sollen die Bücher sein, hieß es einmal in einem Porträt über edition fünf. „Natürlich müssen die Inhalte stimmen – aber die Verpackung eben auch.“ Der Verlag aus Gräfelfing, der, so die selbstironische Beschreibung, „alles falsch macht, was man in der Buchbranche falsch machen kann“, veröffentlicht jedes Jahr fünf verschwundene Bücher von vergessenen Autorinnen und solchen, die es sonst nicht auf den Laufsteg des Buchmarkts schaffen. „Wir schreiben nicht mit den Genitalien“, hat die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer einmal zu Protokoll gegeben, und auch die Initiatorin von edition fünf, Silke Weniger, weiß natürlich, dass Geschlecht allein kein Qualitätsmerkmal ist. Im Folgenden also eine ganz unvoreingenommene Inspektion eines der fünf dieses Jahr erscheinenden Bücher von Autorinnen, die wir laut Verlagsmotto sonst „vermisst haben könnten“.
Erwartbare Übergriffe
Als ästhetische Verlockung, um dies gleich vorauszuschicken, kommt der Erzählungsband der italienischen Schriftstellerin Dacia Maraini erst einmal nicht daher. Die Hamburger Grafikerin Kathleen Bernsdorf, die für den Verlag die Bände gestaltet, hat sich in diesem Fall auf ein puristisches Hellblau beschränkt, auf dem der Titel Geraubte Liebe prangt. Nur das Wort Liebe schnürt ein hauchdünner Faden ein, der auf die Verstrickungen und die Ausweglosigkeit der Situationen verweist, in denen sich die Frauen befinden, von denen die acht Geschichten erzählen. Sie sind allesamt im Italien der Gegenwart angesiedelt und, wie die Verlegerin im Nachwort anmerkt, authentischen Ereignissen nachempfunden.
Wie der Titel schon vermuten lässt, handeln diese „Liebesgeschichten“ weniger von Romantik oder Erfüllung als von Macht und Gewalt, die, aller feministischen Aufklärung und allen Präventionsmaßnahmen zum Trotz, nicht nur in Italien nach wie vor an der Tagesordnung ist, und keineswegs nur in so genannten bildungsfernen Schichten.
Da gibt es Marina, die verletzt im Krankenhaus aufschlägt, weil sie angeblich „die Treppe heruntergefallen ist“. Die bildhübsche, von ihrem Vater zum Kindermodel aufgemotzte Venezia verschwindet spurlos, bis man sie Jahre später verbuddelt auf dem Nachbargrundstück findet. Giorgia geht einem hilfsbereiten Kavalier auf den Leim und wird das schwer bereuen, während Ale nach einer Vergewaltigung bei einem Engelmacher abtreiben muss. Die beiden halbwüchsigen Schwestern Giusi und Rosaria indessen fallen ihrem pädophilen Stiefvater zum Opfer, und Angela wird lernen müssen, dass die Liebe kein genuines Heilmittel ist, auch wenn man Engel heißt und sich wie ein Engel verhält.
So weit, so schlecht die Welt, in der Frauen immer noch als Freiwild wahrgenommen werden und lebenslang männliche Übergriffen aller Art gewahr sein müssen. An den üblen Tatsachen ist kaum zu zweifeln, aber wie wird das, was man aus Zeitungsberichten aufliest, was einen zu Recht empört und umtreibt, zu Literatur?
Dacia Maraini hat sich für den schnörkellosen Weg reiner Abbildung entschieden und nennt das, was sie zu berichten hat, nur „Geschichten“. Sie erzählt die Geschichten dieser Frauen völlig unprätentiös und sprachlich fast unterkomplex, als würde jedes Bild, jeder ästhetische Seitentrieb deren Gewalterfahrung relativieren und den Figuren ein weiteres Mal Unrecht tun. Als einziges formales Zugeständnis erzählt Maraini aus unterschiedlichen Perspektiven, mal aus der Position der Autorin, ein andermal aus der Perspektive des Opfers oder eines gequälten Elternteils. Dass man dabei häufig schon auf der ersten Seite weiß, welche Art Übergriff einen erwartet, geschenkt: Die weibliche Selbstfindungsliteratur der 70er Jahre war auch nicht gerade von dramaturgischer Raffinesse.
Ärgerlicher ist die Figurenzeichnung, die keine Grautöne zu kennen scheint: Da sind Frauen Opfer und Männer brutale Täter; und wenn sie nicht schlagen oder vergewaltigen, dann wiegeln sie ab oder gehen völlig unsensibel über die Erfahrungen der Frauen hinweg wie der Polizist in Der hilfsbereite Vergewaltiger oder der Arzt in Ale und das ungeborene Kind, eine Erzählung, die nicht nur am Klischee, sondern auch am Kitsch schrammt, wenn Ale angesichts einer jungen Frau, die ein Kind auf dem Arm trägt, die Tränen aufsteigen.
Dass sich Frauen durch ihre Gutgläubigkeit und Aufopferungsbereitschaft selbst zum Opfer machen, ist ein gehätschelter Mythos des Patriarchats, auch wenn gewaltförmige Double-Bind-Verbindungen, aus denen Frauen nicht herausfinden, leider eine Tatsache sind. Als Deus ex Machina allerdings taugt eine Amsel, die dem vergewaltigten Mädchen zuzwitschert, den miesen Kerl endlich anzuzeigen, so wenig wie das Antlitz, das eine schuldbewusste Mutter „schmerzvoll verzerrt aus dem Spiegel anstarrte und ihr etwas zu befehlen schien“. Und den missbrauchten Körper einer Zehnjährigen als „verdorben“ zu kennzeichnen, verdoppelt das, was ihm angetan wurde.
Zweifellos ist Dacia Maraini eine bekannte und streitbare feministische Stimme in Italien und ihr Thema, Gewalt gegen Frauen, von trauriger Aktualität. Doch das enthebt eine Autorin von solchem Renommee nicht ihres gestaltenden Auftrags. Und den hat sie in diesem Fall nur bedingt erfüllt.
Buch
Geraubte Liebe Dacia Maraini, Gudrun Jäger (Übers.), edition fünf 2015, 192 S., 19,90 €
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