Der 1904 geborene Theodor K. litt unter Schizophrenie. Er war Patient in einer Göppinger Privatheilanstalt, bis er am 14. Oktober 1940 über mehrere Zwischenstationen in Grafeneck eingeliefert wurde. Das bei Reutlingen gelegene Behindertenheim war die erste von den Nationalsozialisten zur Tötungsanstalt von geistig kranken und behinderten Menschen umfunktionierte Einrichtung. Theodor K. wurde noch am Tag seiner Einlieferung am 29. November, zusammen mit 16 anderen Patienten, ermordet. Die Sterbeurkunde datiert allerdings vom 3. Dezember. Diagnose: Lungenentzündung, Blutsturz. So wurde es auch den Angehörigen in einem „Trostbrief“ mitgeteilt.
Frieda Rettschlag, geboren 1912, wuchs als uneheliches Kind bei Pflegeeltern auf. Als Vierjährige erlitt sie erstmals Krampfanfälle, wurde in die Heilanstalt Berlin-Wuhlgarten eingeliefert und mit Luminal behandelt. Ihr Schulbesuch endete nach der 4. Klasse, weil sie angeblich nicht genug leistete. 1935 entschied das Erbgesundheitsgericht Berlin auf Antrag des Anstaltsdirektors ihre Zwangssterilisation. Am 14. August 1940 verlegte man die junge Frau zunächst in die Zwischenanstalt Neuruppin, dann nach Brandenburg/Havel, wo sie nach ihrer Ankunft ermordet wurde.
Sechs Jahre später wird in der Badischen Zeitung ein Artikel von Alfred Döblin erscheinen, in dem er über eine Begegnung mit einem Arztkollegen im Schwarzwald berichtet. Dieser erzählte ihm „leicht benommen und erregt“ vom Abtransport der sogenannten Berliner „Listenkranken“, der, als „Fahrt ins Blaue“ deklariert, in Duschräumen endete, in denen statt Wasser Gas ausströmte. Das eigene schwächelnde Kind, bekannte der Psychiater dem Schriftsteller, habe er in dieser Zeit bei Freunden versteckt gehalten.
Die Aktion T4
Schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Berliner fanden 1940/41 allein in Brandenburg-Görden, später in Bernburg, den Tod. Reichsweit waren es 200.000 Menschen, die im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms umgebracht wurden. Um Genaueres über die Opfer zu erfahren, muss man schon zu den Veröffentlichungen der heutigen Gedenkstätten greifen, in diesem Fall zu Thomas Stöckles Grafeneck 1940 – Die Euthanasie-Verbrechen in Süddeutschland oder zur kürzlich erschienenen Dokumentation Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel, denn im kollektiven Gedächtnis haben die unter den Nazis verübten Krankenmorde offenbar keinen Platz.
Das hat, meint Götz Aly, in den achtziger Jahren einer der Protagonisten, die das Thema in die geschichtspolitische Bearbeitungszone rückten, einen guten Grund. Er rechnet hoch, dass zumindest jeder achte Deutsche oder Österreicher, der heute älter als 25 Jahre ist, direkt mit Menschen verwandt ist, „die zwischen 1939 und 1945 als ‚nutzlose Esser’ ermordet wurden“. Über sie wird nicht gesprochen, sie sind blinde Flecken in den Familienannalen. Wenn der Autor „die Belasteten“, so der Titel des Buchs, der Anonymität entreißen und ihnen ein Denkmal setzen will, dann spricht er gerade nicht nur über die Schicksale der Opfer und über die Täter, sondern auch über die Angehörigen der Ermordeten.
Die 1939 in Gang gesetzte „Geheime Reichssache Euthanasie“ verlief in zwei Phasen: Die nach der Mordzentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 genannte „Aktion T4“ umfasste die generalstabsmäßige Erfassung zunächst der Anstalten, dann der Insassen, einschließlich ihrer Klassifizierung und systematischen Vernichtung. In der zweiten Phase, die nach dem offiziellen Stopp des auch „Aktion Gnadentod“ genannten Programms im August 1941 einsetzte, wurden die Anstaltsinsassen nicht mehr nach „Plansoll“ vergast, sondern durch die Verlagerung in Siechen- und Sterbestationen „beschleunigt zu Tode gebracht“. Vorangegangen waren 1939/40 die Massaker an 13.000 polnischen psychisch Kranken, die in eigens dafür konstruierten Gaswagen ermordet wurden.
Den erwachsenen Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten wurde dabei weniger Aufmerksamkeit zuteil als kranken und behinderten Kindern, die in den berüchtigten Kinderfachabteilungen zusammengefasst und nach einer geradezu modern anmutenden Differentialdiagnose der tödlich verlaufenden „Behandlung“ zugeführt wurden. Insbesondere auf diese sogenannten „Reichsausschusskinder“ richteten sich die wissenschaftlichen Begehrlichkeiten, sei es für die Grundlagenforschung oder für angewandt medizinische Versuche.
Im Unterschied zum Erbgesundheitsgesetz von 1933, das die Praxis der Zwangssterilisation und -abtreibung legalisierte, ist das Sterbehilfegesetz, das Erb- und Geisteskranke aus der Volksgemeinschaft ausgrenzte und zur Tötung freigab, nie rechtswirksam geworden. Die weit in die zwanziger Jahre zurückreichende Euthanasie‑debatte hatte zwar den Humus bereitet, zwischen „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“ Leben zu unterscheiden, doch für die auf Rechtssicherheit drängenden Ärzte blieb es auch in der NS-Zeit nur beim Gesetzentwurf. Damit nahm Hitler Rücksicht auf die Gefühle derjenigen, die zwischen dem Wunsch nach Entlastung und gefühlsmäßiger Bindung schwankten, den betroffenen Angehörigen. Die Aktion T4 war, wie Aly eindrücklich nachzeichnet, der Testfall für den Holocaust: Was war innerhalb der Reichsgrenzen möglich, was waren Ärzte bereit, mit ihrem Ethos zu vereinbaren, und wie lange würde die Bevölkerung schweigen?
Möglich war, dass innerhalb von sechs Jahren rund 200.000 kranke, völlig wehrlose und hilfsbedürftige Menschen zunächst vergast, dann abgespritzt oder ausgehungert wurden. Wenig vielleicht im Vergleich zu den vielen Millionen Opfern des Nazi-Regimes, aber viel, wenn man bedenkt, dass die Behinderten und Kranken in staatlicher Obhut lebten, dass Ärzte und Pflegende für sie sorgten und es Verwandte gab, die sich mehr oder weniger um sie kümmerten.
Was die Ärzte betrifft, da pflügt Aly kein neues Feld um, waren es gerade keine „Monster“, sondern in vielen Fällen reformfreudige Wissenschaftler, die das Anstaltswesen umkrempeln und die als „therapiewürdig“ erachteten Patienten medizinisch besser versorgen wollten. Die gleichen Anstalten, in denen die „Überflüssigen“ dem Tod entgegensahen, wurden modernisiert. „Es ist doch herrlich“, zitiert Aly Paul Nitsche, Direktor der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein bei Dresden, „wenn wir in den Anstalten Ballast loswerden und nun die richtige Therapie treiben können.“
Verschämtes Einverständnis
Der „Anstaltsballast“ wurde aber nicht, darauf insistiert Aly, nach erbbiologischen Kriterien ausgesondert, sondern danach, wer noch produktiv war. Der krude Utilitarismus, der darauf abstellte, Kapazitäten umzuschichten, verwertbares „Menschenmaterial“ auszunutzen und den Rest zu liquidieren; Betten zu leeren zunächst für „Volksdeutsche“ aus dem Osten, später für Verletzte, Ausgebombte und Kriegsinvaliden: Dieser Befund ist die eine, um im Bild zu bleiben, Sprengbombe dieses Buches. Denn zwar folgte das Vernichtungsprogramm dem System des Holocaust – erfassen, aussondern, liquidieren –, nicht aber den Kriterien: Es ging ausschließlich darum, Ressourcen zu optimieren.
Die zweite verstörende Erkenntnis ist, dass bei diesem Mordkomplott keineswegs kriminelle Juristen, Verwaltungsbeamte, Ärzte und Pflegende auf der einen Seite unschuldigen, unwissenden Angehörigen auf der anderen gegenüberstanden. Die Eltern wurden mit Ausnahme von Berlin in der Regel informiert, bevor die Ärzte, die übrigens einen weiten Ermessensspielraum hatten, ein Kind einer „Sonderbehandlung“ zuführten oder ein Patient zunächst in eine Zwischenanstalt verlegt wurde. Oft reichten schon regelmäßige Besuche, um die Betroffenen vor der Gaskammer zu schützen. Was Hitler auf jeden Fall vermeiden wollte, war Unruhe in der Bevölkerung und Ärger mit der Kirche. Oft genug gab es ein verschämtes Einverständnis zwischen beschwichtigenden Ärzten und überforderten, ratlosen oder gleichgültigen Angehörigen, denen das Nichtwissenwollen leicht gemacht wurde. Deshalb stoppte Hitler nach den drei berühmten Kanzelreden des Münsteraner Bischofs von Galen im Juli/August 1941 zwar die Aktion T4, nicht aber das Morden, im Gegenteil: Die Todesindikationen wurden ausgeweitet auf Asoziale, Kriminelle, Fürsorgezöglinge und andere „Gemeinschaftsfremde“, die durch Arbeit vernichtet wurden. Und im Verlauf des Krieges scheint eine zunehmende Abstumpfung eingesetzt zu haben, wie Aly eindringlich dokumentiert. Die von Aly dokumentierten Botschaften aus den Gaskammern gehen unter die Haut.
In den sechziger Jahren
Dass der Autor seine persönliche Betroffenheit als Vater einer behinderten Tochter beim Gang durch die Anstalten, Gaskammern und Siechstationen nicht unterschlägt, bekräftigt den Furor seiner Forschung. Aber gerade weil er zeigt, dass die Logik der NS-Euthanasie auch den Berufslogiken von Wissenschaftlern und Anstaltsleitern und dem Affekthaushalt der Angehörigen entgegenkam, ist es unverständlich, weshalb er den Erkenntnishorizont nicht ausweitet auf die Kontinuitäten der von ihm skizzierten „biopolitischen Utopie von einer Gesellschaft leistungsstarker, lebensfreudiger und gesunder Individuen“.
Stattdessen lobt er den besonders behindertenfreundlichen deutschen Nachkriegssozialstaat, in dem ein Werner Catel, Leiter der Leipziger Kinderklinik, immerhin noch bis weit in die sechziger Jahre die „Tötung vollidiotischer Kinder“ propagieren durfte, wie Christoph Schneider in seiner Untersuchung Das Subjekt der Euthanasie nachzeichnet. Die heutige vorauseilende Vermeidung von Krankheits- oder Behinderungsrisiken am Beginn des Lebens, das sei deutlich gesagt, ist mit dem NS-Vernichtungsprogramm nicht vergleichbar; wohl aber der damit einhergehende selektive Blick und die utilitaristischen Abwägungen. In einer langen Nachbemerkung gibt der Autor zwar luzide Einblicke in die Genese der Euthanasie-Forschung und eine zunftfremde, immer noch ausgrenzende Wissenschaftsförderung, sie offenbart aber auch einen Autor, der in die zweifelhafte Rolle eines Plagiatsjägers schlüpft und den akademisch Avancierten kleinkrämerisch und gekränkt am Zeug flickt.
Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte Götz Aly S. Fischer 2013, 348 S., 22,99 €
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"Die heutige vorauseilende Vermeidung von Krankheits- oder Behinderungsrisiken am Beginn des Lebens, das sei deutlich gesagt, ist mit dem NS-Vernichtungsprogramm nicht vergleichbar; wohl aber der damit einhergehende selektive Blick und die utilitaristischen Abwägungen"
Ich bin sehr dankbar, dass dieser Satz endlich einmal geschrieben worden ist.
Was leider dadurch gemindert wird, dass zu der Beurteilung " zweifelhafte Rolle eines Plagiatsjägers schlüpft und den akademisch Avancierten kleinkrämerisch und gekränkt am Zeug flickt" jeglicher Beleg ausgelassen ist.
Danke für die Besprechung, auch für die Problematisierung des Buches.
Alys Forschungen können den Leser nicht unberührt lassen. Bei der Lektüre musste ich zum Beispiel ständig an ein in meinem Wohnort gelegenes Behindertenheim, von den Alten immer noch "Krüppelheim" genannt, denken, das vor einigen Jahren wegen permanenter Mißhandlungen in den 50ern und 60ern in die Öffentlichkeit kam. Echte schwarze Pädagogik. Über die dreißiger, vierziger Jahre herrscht Beschweigen. Die Anstalt sei zu einem "Siechhaus" verkommen, liest man. Was heißt das?
Alys Buch lässt den Leser diese Kontuinuitäten erkennen, in denen die NS-Täter mit letzter Konsequenz stehen, die aber nach (und wegen?) ihnen weiter existieren. Er gibt den Opfern ihre Namen zurück, die - wie die anderen Nazi-Opfer - zu Nummern (oder Fälle) verdinglicht wurden.
Alys Stärke ist die auf Archivarbeit beruhende Kenntnis des Konkreten. Die Verallgemeinerung überlässt er oft dem Leser. Das Versprechen des Untertitels "Eine Gesellschaftsgeschichte" (der wohl polemisch gegen Wehler gerichtet ist) wird so nur teilweise eingelöst. So ist es - finde ich - oft bei Aly: Wenn man denkt, dass es in die Tiefe und die Breite geht, hört er auf.
Dass er als Publizist und Kommentator öfters zu Kurzschlüssen neigt, habe ich an diesem Ort einige Male kritisiert. Seine "Nachbemerkung" macht vielleicht seine Idiosynkrasie dem gegenüber, was als man als Mainstream-Historiographie (der siebziger und achtziger Jahre) bezeichnen könnte, verständlich.
Wie auch immer: ein wichtiges Buch.
Liebe Frau Baureithel,
dass Buch von Aly ist sicherlich nicht das erste und hoffentlich auch nicht das letzte zu der Thematik. Dank Ihres Hinweises habe ich es nun gelesen, meine jedoch, dass es –zumindest mir- die einen oder anderen neuen Blick öffnet auf den verharmlosend „Euthanasie“ genannten systematischen Mord der Nazis an Kranken und Behinderten. Was ich wichtig finde ist der Aufweis, dass die „Idee“, einen „Volkskörper“ durch Sterilisierung, ja sogar Ausmerzung der „Minderwertigen“ zu „veredeln“, bis weit in die Lager sozialreformatorischer Ärzte vor 1933 zu verfolgen ist.
Mich erstaunt dann schon ein wenig, dass Sie nun schreiben: „Die heutige vorauseilende Vermeidung von Krankheits- oder Behinderungsrisiken am Beginn des Lebens, das sei deutlich gesagt, ist mit dem NS-Vernichtungsprogramm nicht vergleichbar; wohl aber der damit einhergehende selektive Blick und die utilitaristischen Abwägungen.“
In ihrem Artikel aus dem letzten Jahr „Ärzte als Täter“ antworteten Sie: „Nein, ich wollte zunächst darauf hinweisen, dass die NS-Medizingeschichte nicht isoliert betrachtet werden kann, dass das sozialdarwinische Paradigma früher ausgebildet und virulent wurden und dass es - leider, wie die zahlreichen Ethikdebatten in der Medizin beweisen - nachwirkt. Aber es wäre blauäugig zu glauben, die jüdischen Ärzte hätten da außerhalb gestanden; sie waren, bevor sie mit Berufsverbot belegt wurden, ein Teil der Wissenschafts- und Ärzte-Community, die durchaus auch Richtung und Ziele ihrer Disziplinen mitbestimmten - darunter auch die (positive) Eugenik, die Menschenbessermachung. Das entlastet aber keineswegs die Täter und soll die Opfer nicht nachträglich diffamieren. Sie bleiben Opfer.“
Ihre Antwort aus dem Jahre 2012 hat mich nicht losgelassen. Mein Zwischenfazit ist, dass die „Geschichte des sezierenden und selektiven Blicks“ noch gar nicht umfänglich geschrieben worden. Mir ist im Zuge meiner „Wühlerei“ aufgegangen, wie sehr etwa auch die moderne (Experimental)Psychologie, deren Einflussnahme unmittelbar mit den beiden Weltkriegen zusammenhängt (Persönlichkeits- und Eignungstest insbesondere für die militärische und industrielle Personalauswahl und den Arbeits- und Organisationsprozesse), die Kognitionsforschung seit den 1940ziger Jahren diesen Blick beförderte. In dem Zusammenhang ist es interessant, dass kaum noch der Name von Philipp Lersch in Büchern auftaucht, der wie kaum ein anderer für die deutsche Psychologie der dreißiger und vierziger Jahre repräsentativ war und in den fünfziger und sechziger Jahren zu den anerkanntesten und führenden deutschen Psychologen zählte. Sein Vortrag nach dem Stopp der planmäßigen Tötungen behinderter Menschen 1941 (das Planziel von 70.000 Tötungen war ja erreicht und dann gab es wohl auch diese Predigten des Münsteraner Bischofs von Galens, ein Vorkriegsantisemit erster Güte) vor dem Audimax im Dezember 1941 spricht Bände: „Wenn nun die tatsächliche Macht der Vererbung gezeigt hat, daß der hemmende Einfluß der Erziehung Grenzen gesetzt ist, (…) so tritt dort, wo diese Grenzen liegen (…) ein neues Recht der Gemeinschaft, nämlich das Recht, den Eintritt minderwertiger Anlagen –körperlicher Krankheiten, geistiger, seelischer, sozialer Minderwertigkeiten – im Erbgang zu verhindern.“ (Lersch, P. (1942). Das Problem der Vererbung des Seelischen. Leipzig)
Ich bin auch auf Texte und Untersuchungen von Kurt Huber gestoßen, seines Zeichens Widerstandskämpfer der Weiße Rose, der noch in den 1990ziger Jahren als „politisch links“ eingestuft wurde, wohingegen Weber (Selbstzweck gedacht. Rezensionen zu Schorr/Weber: Psychologiegeschichte heute. Psychologische Literatur-Umschau. Kritische Rezensionszeitschrift für Psychologie 1/91. Münster: Bessau) darauf aufmerksam machte, dass Hubers Thema neben der Begabtenförderung insbesondere rassenpsychologische Fragestellungen waren. Vor dem Volksgerichtshof betonte Huber dann auch in seiner Verteidigungsrede seine konservativ-völkische Einstellung. An der NSDAP kritisierte er, „daß sie die wahre Volksgemeinschaft (…) zunichte gemacht und keinen „wahren, germanischen Führerstaat“ errichtet habe.
Wenn Sie nun den Blick auf mögliche Zusammenhänge und Kontinuitäten auf die vorgeburtliche Selektion lenken, wäre diese Perspektive –heuristisch- nicht auch zu erweitern auf die Alten und Pflegebedürftigen, frage ich mich, auch weil Aly darauf hinweist, dass der trotz Geheimhaltung bekannt gewordener Krankenmord in der Öffentlichkeit keineswegs unpopulär war. Nicht wenige überforderte Angehörige fühlten sich ja erleichtert, ohne dass sie wie viele ökonomische Planer dies unter dem Verdikt der „Ausschaltung unnützer Esser“ taten.
Im Zusammenhang mit Martina Rosenbergs Buch „Mutter, wann stirbst Du endlich“, hat Claus Fussek, einer der schärfsten Kritiker der Heim-und ambulanten und häuslichen Pflege, sich besorgniserregend geäußert.
http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/431902_ttt-titel-thesen-temperamente/12820128_ein-buch-ueber-die-last-der-privaten-altenpflege
LG am
Ihr Hinweis in "Where I was from": Ulrike Baureithel 21.02.2013 | 17:49@anne mohnen
Den Hinweis auf Kurt Huber finde ich interessant - und ziemlich beunruhigend.
Übrigens zweifel ich nach der Lektüre des Buches auch ein wenig an meiner bisherigen Haltung zur "Inklusion" behinderter Schüler. Einerseits ist es richtig, dass im Namen von selbstverständlicher Mitmenschlichkeit (die leicht der Ideologie zu überführen ist, es geht auch hier um Effizienz) den Schulen (d.h. immer vor allen den Lehrern) kaum zu Leistendes aufgebürdetwird und die politischen Entscheider nicht wissen, was sie konkret "anrichten" (Gebäude, Räumlichkeit, Ausbildung und Leidenskapazität der Lehrer, Klassen- und Kursgrößen, Organisation, z.B. Gestaltung der Klausuren/Klassenarbeiten, alles ist nicht berücksichtigt), andererseits müssen die Behinderten aus den Ghettos hinaus, normal sein.
Und ich sehe hier mehr denn je die Wichtigkeit einer gesellschaftlichen Transformation. Da wird Aly mir nicht folgen - was ich nicht verstehen kann, weil es "irgendwie" die Konsequenz seiner Geschichtsschreibung ist.
Lieber wwwalkie,
zu Huber: Im Nachgang finde ich den Fall Huber gar nicht so erstaunlich. Der deutsche Widerstand war ja keine homogene Truppe von linken oder schlichtweg demokratisch ausgerichteten Kräften. Nehmen sie Julius Leber (SPD), dem attestierte Dorothea Beck in ihrer Biographie (Julius Leber. Sozialdemokrat zwischen Reform und Widerstand. Mit Briefen aus dem Zuchthaus. Einleitung von Willy Brandt.) antisemitische Töne vor 1933; vom „Löwen von Münster“ ganz zu schweigen. Aber das ist ein anderes Thema.
Der Fall Lersch ist eher exemplarisch für mögliche Kontinuität, wie sie von Frau Baureithel angesprochen wird und deren Auswirkungen, Sie als Lehrer in der Praxis zu spüren bekommen.
Ein Literaturhinweis: Huber, K. (1986). Schluß mit der Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof. In: Huber, Clara (Hg). „…der Tod…war nicht vergebens.“ Kurt Huber zum Gedächtnis. München: Nymphenburger.
Liebe Frau Baureithel,
Mit den meisten Einschätzungen zu Alys Buch habe ich kein Problem. - Es spricht viel dafür, dass Wahrheiten zum Nationalsozialismus und jenem Dritten Reich immer wieder neu ausgesprochen werden müssen. Zukünftig muss das sogar ohne die letzten Zeitzeugen geschehen.
Die von Binding und Hoche, einem Juristen und einem Arzt erstmals 1920, genauestens beschriebene Selektion, zur vorgeblichen genetischen Verbesserung des Volkes, eine Perversion des Begriffes Euthanasie, -sie sollte heute besser Euthanasie-Morde oder eugenische Morde genannt werden-, wurde unter den Nazis, aber mit Zustimmung sehr vieler, biologistisch orientierter Ärzte, die diese Gedanken lange schon vor dem Dritten Reich hatten, ins Werk gesetzt.
Das schmale Buch "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form", war unter Ärzten und Juristen bekannt. Binding sprach von „Nebenmenschen“ über deren Weiterleben zu entscheiden wäre, Hoche prägte den Begriff der „Balastexistenzen“ (http://www.staff.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html ). - Ja, wie sie, Frau Baureithel, es schon einmal berichteten, es gab vor 1933 auch jüdische Ärzte, die sich für Eugenik und Erbgesundheit interessierten und diesen Thesen zustimmten. Wo anders als in Berlin, hätte man dazu besser forschen können ( http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=8&ved=0CGIQFjAH&url=http%3A%2F%2Fdg.philhist.unibas.ch%2Findex.php%3Fid%3D3373%26no_cache%3D1%26file%3D470%26uid%3D2545&ei=26lIUdWVOIrJswbU0YHgBA&usg=AFQjCNGKYTO3t0H7bRQQJEFYU_cUhANbIA&bvm=bv.43828540,d.Yms&cad=rja )?
Es gab sie in der ganzen angelsächsischen Welt, sogar mit herausragenden Vertretern, sogar mit politischer Unterstützung, die das auf der Grundlage einer utilitaristischen Ethik vertraten, auch im stalinistischen Russland. Schließlich hatten da viele ihr Wissen und ihre Haltung von der damals führenden, deutschen Medizin.
Tatsächlich wurde das T4 (Tiergartenstraße 4, Sitz der Leitung) Programm offiziell 1941 eingestellt, nachdem es zahlreiche Eingaben der betroffenen Familien und Proteste der Kirchen gab. Aber die NS-Ärzte Bouhler und Brandt, verantwortlich und von Hitler autorisiert, unterstützten die Fortführung an anderen "Heil- und Pflegeanstalten" und dazu zahlreiche Menschenversuche, die, z.B. in den besetzten Gebieten im Osten, sogar noch ausgeweitet wurden.
Systematisch fanden Tötungen bis 1944, in Hartheim bei Linz statt, etwas kürzer in Bernburg und Sonnenstein, bis 1943. Wie verbreitet der Gedanke war, die "Eugenik" überall anzuwenden, zeigen auch zahlreiche sporadische Aktionen im ganzen Reichsgebiet und in den Protektoraten. Später wurden Tötungen vorgenommen, um Lazarettplätze in den Einrichtungen zur Verfügung zu haben. Gemordet wurde praktisch bis in die letzten Kriegsmonate hinein.
Alle Mordaktionen in diesem Zusammenhang sind grauenhaft und beispiellos. Besonders perfide waren die meist verschleierten (erlogene Todesursachen gegenüber den Angehörigen) Morde an den Kindern- und Jugendlichen in den Heimen. Sie wurden vor allen anderen Verbrechen im T4 Programm durchgeführt.
Nebenher lief das reichsweite Zwangssterilisationsprogramm, dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, deren Gene als unwürdig, volksfremd, geschädigt oder risikobehaftet galten. Die Zahl und Art derjenigen Opfer, die unter diese grausame und verstümmelende Maßgabe fielen, sie ist zu umfangreich, um sie in einem knappen Kommentar anzuführen.
Eine Verbindung zur Ermordung der Juden, also die T4-Aktion als Vorlauf des Holocaust, kann man vielleicht mit Bezug auf das Ausprobieren verschiedener Tötungsarten sehen. Da galten die Ärzte des T4-Programms als "Spezialisten" (Gift, Gas,Verhungern lassen).
Die Vernichtung der Juden hatte aber andere, wenn auch nicht weniger perfide, ideologische Wurzeln.
Sie galten den Nationalsozialisten und auch vielen völkischen Kreisen, als dasjenige Volk, das dem Aufstieg der Deutschen als Herren- und Herrschaftsrasse in Europa im Wege stand. Während sich die Nazis im Osten „minderwertigen" Völkern gegenüber glaubten, die man versklaven, ausbeuten und durch die Vernichtung ihrer Eliten zu kontrollieren gedachte, die man auch „durch Arbeit vernichten“ wollte, galten die Juden als Todfeinde. Sie sollten, selbst unter den ungünstigsten eigenen Bedingungen, mit allen Mitteln vernichtet werden. - Diese Haltung war mit der Fortdauer des Krieges nicht durchzuhalten. Nun sollten auch Teile der in den KZs und Ghettos gesammelten Juden produktiv für den „Endsieg“ arbeiten, „durch Arbeit vernichtet“ werden und, dies galt für einige Spezialisten, kriegsnützliche Aufgaben erfüllen.
Die eugenischen Mordprogramme, allesamt von einer Elite der deutschen Ärzte, von ganzen Hochschulabteilungen und deren Professoren, sowie zahlreichen Studenten mit getragen, reihen sich ein in eine Vielzahl ähnlich perfider Taten, wie z.B. die medizinischen Versuche an KZ-Häftlingen im Reichsgebiet, z.B. in Dachau, und dann vor allem in Auschwitz.
Mittlerweile ist aus umfangreichen Studien und den Erlebnisberichten der Häftlingsärzte und Pfleger, sowie überlebender Betroffener bekannt, dass an diesen Versuchen zahlreiche Ärzte mitarbeiteten, die die Versuche, aber auch die eugenische Selektion, befürworteten, aber z.B. die nochmals gesteigerte Grausamkeit, bei den Programmen ablehnten. - So erwies sich Dr. Rascher, einer der Leiter medizinischer Versuche in Dachau, als Sadist, der seine menschlichen „Versuchskaninchen“ selten davon kommen ließ, auch wenn sie den an sich schon grausamen Versuch überlebt hatten.
Gedanklich war man vollkommen eingenommen davon, man könne mit der gerade erst entstehenden, wissenschaftlichen Vererbungslehre und Humangenetik, wesentliche Verbesserungen am „Volkskörper“ erzielen und dafür sei auch der Preis, nämlich unärztlich zu handeln, ein geringer. Die Flugmediziner und Physiologien (Unterkühlungs- und Druckversuche), Pharmakologen (medizinische Biochemiker, z.B. Sulfonamide) und Infektiologen (Malaria, Gelbsucht, Typhus,...) schrieben immer wieder von den „unglaublichen Möglichkeiten“, die sich ihnen boten, statt in Labors und an Versuchstieren, nun rücksichtslos an Menschen experimentieren zu können.
Einmal abgesehen davon, dass schon die wissenschaftliche Basis fast aller eugenischer Maßnahmen zweifelhaft war , gilt das noch viel mehr für die Menschenversuche, die unbeschreibliche Qualen ins Werk setzten, aber in medizinischer Hinsicht nicht nur unethisch, sondern auch noch völlig ohne Erfolgsaussicht betrieben wurden. Ein Teil der medizinschen Versuche war direkt von Himmler angeordnet, der noch seltsamere Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Genetik vertrat, als jene überzeugten, allesamt an der modernen Medizin interessierten NS-Ärzte.
Stille und schleichende „Zuchtwahl“: Die Zukunft der Medizin wird sicher mitgepägt von einem neu erwachten und heute noch mehr verfeinerten Denken um die Verbesserung des Erbmaterials durch Auslese. Heute scheint es noch so, als sei die Auswahl (Selektion) von befruchteten Eizellen, aber auch die Voruntersuchung von Samen und Eizellen, das Screening nach Erbkrankheiten, ein individueller Akt, der die Furcht und die Ängste individueller Familien, nach einer genetischen Beratung reduziert, also sehr segensreich für Einzelne wirkt. - Unter diesen Gesichtspunkten betreiben auch bestimmte jüdische Subcommunities recht regelmäßig das genetische Screening unter ihren Angehörigen.
Die Kataloge der vermeintlichen Ausschlusskriterien werden aber länger, die Ansprüche der möglichen Eltern immer höher und die Zugänge zu den Verfahren, zumindest in den westlichen Ländern, in der reichen Oberschicht Chinas oder in anderen Schwellenländer, immer günstiger.
Das Genmaterial aus den Zellhaufen kann heute weitestgehend maschinell vermehrt und dann ebenso automatisiert, auf bekannte Gendefekte hin ausgewertet werden.
Bisher gibt es noch keinen gesellschaftlichen Umschlag, der aus der mittlerweile schon recht routinierten, individuellen Auswahl, eine gesellschaftliche Pflicht für potenzielle Eltern und für die betreuenden Ärzte ableitete. Noch herrscht große Einigkeit und auch eine religiös gestützte Bindung, die uns schwere Behinderungen und Krankheiten als lebbares Menschenschicksal auffassen lässt.
Wer garantiert aber, dass die Ausschluss-Kataloge für die „Wunschkinder“ begrenzt bleiben? Wer garantiert, dass die Ablehnung von Gentests und auch die Ablehnung von Abtreibungen bei festgestellten Gendefekten, nicht zu einem Stigma werden? Wer garantiert, dass nur recht strenge, medizinische Kritierien angewandt werden und sich das Screening nicht auf sozialwirksame Faktoren, wie z.B. Geschlecht, prognostizierte Körpergröße, prognostizierte Intelligenzmaße, u.ä., ausdehnt? Wer definiert, ab welcher Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere eine mögliche, genetisch verursachte Erkrankung oder Behinderung als zu großes und nicht tragbares Risiko zu gelten hat? Privat organisiert und gut honoriert, lässt sich in einigen Ländern sehr viel mehr testen und vorher bestimmen, als derzeit bei uns. Wer das Geld zur Verfügung hat, der greift immer häufiger zu diesen Methoden und lässt sich in den Staaten, in England, Südamerika, Thailand beraten und testen und da ensteht dann das Wunschkind.
Beste Grüße und weiter
Christoph Leusch
lieber Columbus,
die Leute sind manchmal ganz schön ausgeschämt. Während der Schwangerschaft bei meinem jüngsten Kind bin ich von zwei Frauen gefragt worden, ob ich eine Pränataldignostik machen lasse. Das war aber keine Frage, das war eine Aufforderung. Ich war eine ziemlich spät Gebärende.
Wenn es die besten Freundinnen, evtl. Freunde, am rechten Ort, zu rechten Zeit waren, verzeihlich, vielleicht gar mit einem Übermaß an Besorgnis gefragt. Wenn es aber die Damen aus der Gymnastik waren. Tja. So lebt der Mensch.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Die PDN hat das Problem doch nur verschärft. Bereits während meines Studiums habe ich, eingeladen durch von meinem Genetik-Professor, ein interdisziplinäres Oberseminar an der LMU besucht, organisiert von katholischen und evangelischen Theologen, in dem es schwerpunktmäßig eben auch um Pränataldiagnostik ging. Das ist nun lange her.
Bereits damals haben mich/uns die Statements der Pränatalmediziner und die Leiter jener genetischen Beratungsstellen entsetzt. Es war offenkundig, dass von umfänglicher Aufklärung in alle möglichen Richtung keine Rede sein konnte. Das ist bis heute so. Ich lass‘ da auch das selten dämliche Argument von mangelnden finanziellen Ressourcen nicht gelten.
Angesichts der Statistiken, die einen signifikanten Zusammenhang zwischen Abbrüchen nach Beratungen resp. Untersuchungen nahelegen, finde ich Ihre Bemerkung „Gymnastin“ gegenüber Schachnerin seltsam.
Bis heute habe ich Kontakt auch mit Hebammenvertreterinnen, die ihre Sorge und Wut über mangelnde Informationen (bis heute) kundtun.
Obacht, ich will hier keine Diskussion lostreten, was Müttern oder Vätern zuzumuten ist und erst recht nicht!!
LG am
liebe Anne Mohnen,
jetzt habe ich nicht viel Zeit, ich kann erst später einen längeren Kommentar schreiben.
Es wird für selbstverständlich gehalten, daß sogenannte Risikoschwangere über 35 eine PND machen lassen. Was ein positives Ergebnis bedeutet, glaube ich wollen nicht alle wahrhaben. Eine Frau hat mir erzählt, daß sie schwanger war und nach einem Test nach der 20. Schwangerschaftswoche 3 Wochen auf das Ergebnis gewartet hat. Da war das Kind schon tot.
Den Film tödliche Diagnose suchen ich ihnen noch.
einen schönen Gruß
Schachnerin
"Es wird für selbstverständlich gehalten, daß sogenannte Risikoschwangere über 35 eine PND machen lassen."
Ohne hier irgendwelche Risiken verharmlosen zu wollen, ohne hier irgend einer Frau, einem Paar in die Entscheidungen hineinreden zu wollen, Moralin zu verbreiten, ist die Schwangerschaft seit sie wie eine Krankheit behandelt wird, ein riesiges Geschäft zu dem die Verunsicherungder Frauen gehört.
Mein letztet Stand der Dinge, ich bin allerdings weder Gynäkologin noch Epidemienologin, ist, dass eine (belgische?)Frauenärztin mal scharf nachgeschaut hat, wo eigentlich die umfänglichen, großen Studien zu finden sind, die statistisch belegen, dass Frauen über 30 ein höheres Risiko haben, Kinder mit einem genetischen Defekt zu empfangen. Obwohl die Zahl der Frauen weltweit stetig ansteigt, die ihre Kinder erst nach dem 30 Lebensjahr bekommen, sieht es da ziemlich mau aus, auch wenn das Mantra permanent von Ärzten wiederholt wird.
LG am
Bei der Lektüre musste ich unwillkürlich an meine Familie denken, gerade hinsichtlich des Schweigens innerhalb der Familie.
Es war eine bekannte Geschichte in der Familie, dass meine Mutter neben ihrem jüngeren Bruder noch einen älteren gehabt hatte. Das wurde uns Kindern, also meiner Schwester, meinen Cousins und mir, bereits erzählt, als wir noch klein waren.
Allerdings ging die Geschichte anfangs immer so, dass dieser ältere Onkel direkt bei der Geburt gestorben sei, weil es eine missglückte Zangengeburt gewesen sein sollte. Erst als ich schon Teenager war, munkelte meine Mutter hinter vorgehaltener Hand, ob da nicht mal die Nazis ihre Finger mit im Spiel gehabt haben könnten. Als ich diese Theorie erstmals hörte, dachte ich mir nicht viel dabei. Sicher hatte ich bereits in der Schule schon von Euthanasie gehört, konnte es aber zeitlich nicht entsprechend einordnen.
Wieder ein paar Jahre später erfuhr ich sehr konkret, wann die Euthanasie überhaupt genau stattgefunden hatte. Angesichts dessen, was meine Mutter mir früher erzählt hatte, konnte es mit meinem ältesten Onkel nichts zu tun gehabt haben, weil er viel zu früh geboren worden wäre.
Mittlerweile sind meine Großmutter und mein Großvater tot. Beide erzählten nichts über diese Zeit. Meine Oma war mit ihren beiden Kindern zu ihrer Schwägerin auf einen Bauernhof nahe Ulm gezogen, um dem Bombenhagel im Ruhrgebiet auszuweichen. Mein Großvater war später von der Ostfront desertiert und hatte sich irgendwie allein ebenfalls zu diesem Bauernhof durchgeschlagen. Hier versteckte er sich die letzten Kriegsmonate unter dem Dach der Scheune. Meine Mutter weiß noch, wie eindringlich ihr gesagt worden war, niemandem davon zu verraten, dass ihr Vater wieder zurück war.
Letztes Jahr war es so weit. Inzwischen selbst älter und ehrlich gesagt auch ein wenig schusselig geworden begann meine Mutter ganz unvermittelt, mir bei einer Feier unter vier Augen von diesem älteren Onkel zu erzählen. Dass sie immer wieder an ihn denken muss. Wie er da als Kind in einem Stühlchen gesessen hatte, offenkundig geistig behindert. Wie er unwillkürlich um sich schlug, nicht sprechen konnte und sie schließlich angriff. Daraufhin kam er in ein Heim bei Mönchengladbach. In dem Heim hatten meine Oma und meine Mutter ihn noch besucht, daran konnte sie sich auch erinnern.
Als meine Oma dann mit den Kindern in den Süden zog, sprach ihr Arzt sie an. Er teilte ihr unter der Hand mit, dass ihr ältestes Kind schwer krank sei und bald sterben würde. Laut meiner Mutter hatte er sogar im Vorfeld schon gesagt, dass die Todesursache sicher Lungenentzündung werden würde.
In der Sicherheit auf dem Bauernhof nahe Ulm erhielt meine Oma dann kurz darauf einen Brief, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass ihr ältester Sohn gestorben sei – an einer Lungenentzündung.
Es ist seltsam, wenn man dieses Schweigen selbst erlebt hat. Genauso seltsam ist es, dass meine Mutter plötzlich beginnt, davon zu erzählen. Sie unterscheidet sich hierin massiv von meinen Großeltern, die nichts über ihre Zeit im Krieg erzählt haben. Niemand hat jemals erfahren, warum mein Großvater desertiert ist und was er auf dem Weg allein durch halb Europa erlebt hat. Bekannt war nur in der ganzen Familie, dass er Waffen aufs Schärfste abgelehnt hat, ja er ist sogar mal ausgeflippt, als ich mir als Kind aus Papier eine Pistole geschnibbelt habe, mit der ich Cowboy spielen wollte.
liebe Anne Mohnen,
In den USA kommen 80% der Fälle mit Downsyndrom bei Müttern unter 35 Jahren vor.
http://www.rightdiagnosis.com/d/down_syndrome/stats.htm#medical_stats
Die Organisation der us-amerikanischen Geburtshelfer und Gynälogen ACOG empfiehlt alle Schwangeren auf das Downsyndrom zu screenen. Bisher wurden nur die über 35jährigen routinemäßig gescreent.
http://www.nytimes.com/2007/05/09/us/09down.html?_r=1&
Auf einerFrauenarztseitesteht, dass nur in etwa 30% der Fälle von Trisomie 21 die Frauen älter als 35 Jahre sind.
Eine Spätabtreibung ist eine eingeleitete Geburt. Das Kind muss auf natürlichen Weg auf die Welt gebracht werden. Es muss tot sein, wenn es da ist. Eine Hebamme begleitet die Geburt. Reinhard Merkel, der von der Ethikkommission, sagt zum Fetozid: "Die Tötung des Ungeborenen ist in einer solchen Situation rechtlich erlaubt und ethisch geboten«.
Monika Hey beschreibt in ihrem Buch mein gläserner Bauch wie sie sich zu einer Abtreibung drängen ließ. Die eingeleitete Geburt hat eine Woche gedauert. Sie ist für das Recht auf Nichtwissen
http://www.faz.net/aktuell/praenataldiagnostik-ich-wollte-nicht-abtreiben-11970680.html
http://blog.zdf.de/zdflogin/2012/09/24/die-gaeste-am-26-september-2012/
Ich rede mich leicht, ich habe 3 gesunde Kinder.
Schachnerin
@ Liebe Schachnerin,
vielen Dank für die Infos. Ich hatten ähnlich Zahlen wie die aus den USA im Kopf, konnte sie aber nicht belegen.
Wie gesagt, es geht mir wie Ihnen nicht darum, über Entscheidungen zu urteilen, auch weiß ich, dass Behinderung nicht gleich Behinderung
In meinem persönlichen Umfeld erlebte ich, dass ein Kind mit einer schweren Missbildung im Gesicht und Gaumen-Rachenbereich zur Welt kam. Die Ärzte wollten das Neugeborene nach der Geburt erst gar nicht beatmen, sprachen von einer „Mangelgeburt“. Nur durch die Geistesgegenwart einer dabeistehenden Angehörigen und ihrem Insistieren, Mutter und Vater des Säuglings waren ja geschockt, wäre Schlimmeres eingetreten allein durch Sauerstoffunterversorgung. Inzwischen ist es nicht unüblich bei dieser Art der Missbildung, die Schwangerschaft abzubrechen. Das Kind hat seither eine große OP und mehrere kleine Korrekturen hinter sich und ist ein vergnügter und intelligenter Junge.
Das Procedere bei Spätabtreibungen ist noch einmal ein ganz anderes, sehr finsteres Thema.
LG am
Liebe Anne Mohnen,
entschuldigen Sie, dass ich erst jetzt antworte, ich komme gerade von einer Reise zurück:
Da haben Sie mich nun erwischt mit einem Kommentar aus dem Jahre 2012. Und wahrscheinlich hätte ich früher noch viel unnachsichtiger argumentiert.
Aber in der Tat: Einersetits bin ich über Alys Hinwegssehen über nicht hinwegsehbare Kontinuitäten, die - Sie haben recht - nicht nur in Bezug auf vermeidbare Behinderung, sondern auch im Hinblick auf alte Menschen unabweisbar sind, hochgradig irritiert; insbsondere, was das ökonomische Kalkül betrifft, das er ja skandalisiert.
Andererseits, wenn man sich den praktischen Vollzug der NS-Ausrottungspolitik von Behinderten, Kranken und Alten vor Augen hält, kann eine Parallele so nicht behauptet werden. Das Problem besteht ja eher darin, dass heutzutage das, was vermieden werden soll, internalisiert haben und unter dem Begriff von Freiwilligkeit, "Selbstbestimmung" ect. verbuchen. Die Menschen sollen, vorauseilend und ihr Umfeld entlastend, tätig werden, sei es, indem sie behindertes Leben vermeiden oder sich als "unnütze Esser" per Patiententestament "abschaffen" - oder zumindest ein schlechtes Gewissen haben.
Was Sie im Hinblick auf die Psychologie schreiben, ist interessant, ich werde dem mal nachgehen.
Danke dafür und Grüße
Lieber Christoph Leusch,
ich würde Ihren Kommentar gerne beantworten - aber er ist nur zum Teil lesbar. Vielleicht kann mir da der Freitag-Support weiterhelfen?
ad Ulrike Baureithel 21.03.2013 | 19:47
Vielleicht klappt es so: (Text vom 19.03.13, hier einkopiert)
Liebe Frau Baureithel,
Mit den meisten Einschätzungen zu Alys Buch habe ich kein Problem. - Es spricht viel dafür, dass Wahrheiten zum Nationalsozialismus und jenem Dritten Reich immer wieder neu ausgesprochen werden müssen. Zukünftig muss das sogar ohne die letzten Zeitzeugen geschehen.
Die von Binding und Hoche, einem Juristen und einem Arzt erstmals 1920, genauestens beschriebene Selektion, zur vorgeblichen genetischen Verbesserung des Volkes, eine Perversion des Begriffes Euthanasie, -sie sollte heute besser Euthanasie-Morde oder eugenische Morde genannt werden-, wurde unter den Nazis, aber mit Zustimmung sehr vieler, biologistisch orientierter Ärzte, die diese Gedanken lange schon vor dem Dritten Reich hatten, ins Werk gesetzt.
Das schmale Buch "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form", war unter Ärzten und Juristen bekannt. Binding sprach von „Nebenmenschen“ über deren Weiterleben zu entscheiden wäre, Hoche prägte den Begriff der „Balastexistenzen“ (http://www.staff.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html ). - Ja, wie sie, Frau Baureithel, es schon einmal berichteten, es gab vor 1933 auch jüdische Ärzte, die sich für Eugenik und Erbgesundheit interessierten und diesen Thesen zustimmten. Wo anders als in Berlin, hätte man dazu besser forschen können ( http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=8&ved=0CGIQFjAH&url=http%3A%2F%2Fdg.philhist.unibas.ch%2Findex.php%3Fid%3D3373%26no_cache%3D1%26file%3D470%26uid%3D2545&ei=26lIUdWVOIrJswbU0YHgBA&usg=AFQjCNGKYTO3t0H7bRQQJEFYU_cUhANbIA&bvm=bv.43828540,d.Yms&cad=rja )?
Es gab sie in der ganzen angelsächsischen Welt, sogar mit herausragenden Vertretern, sogar mit politischer Unterstützung, die das auf der Grundlage einer utilitaristischen Ethik vertraten, auch im stalinistischen Russland. Schließlich hatten da viele ihr Wissen und ihre Haltung von der damals führenden, deutschen Medizin.
Tatsächlich wurde das T4 (Tiergartenstraße 4, Sitz der Leitung) Programm offiziell 1941 eingestellt, nachdem es zahlreiche Eingaben der betroffenen Familien und Proteste der Kirchen gab. Aber die NS-Ärzte Bouhler und Brandt, verantwortlich und von Hitler autorisiert, unterstützten die Fortführung an anderen "Heil- und Pflegeanstalten" und dazu zahlreiche Menschenversuche, die, z.B. in den besetzten Gebieten im Osten, sogar noch ausgeweitet wurden.
Systematisch fanden Tötungen bis 1944, in Hartheim bei Linz statt, etwas kürzer in Bernburg und Sonnenstein, bis 1943. Wie verbreitet der Gedanke war, die "Eugenik" überall anzuwenden, zeigen auch zahlreiche sporadische Aktionen im ganzen Reichsgebiet und in den Protektoraten. Später wurden Tötungen vorgenommen, um Lazarettplätze in den Einrichtungen zur Verfügung zu haben. Gemordet wurde praktisch bis in die letzten Kriegsmonate hinein.
Alle Mordaktionen in diesem Zusammenhang sind grauenhaft und beispiellos. Besonders perfide waren die meist verschleierten (erlogene Todesursachen gegenüber den Angehörigen) Morde an den Kindern- und Jugendlichen in den Heimen. Sie wurden vor allen anderen Verbrechen im T4 Programm durchgeführt.
Nebenher lief das reichsweite Zwangssterilisationsprogramm, dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, deren Gene als unwürdig, volksfremd, geschädigt oder risikobehaftet galten. Die Zahl und Art derjenigen Opfer, die unter diese grausame und verstümmelende Maßgabe fielen, sie ist zu umfangreich, um sie in einem knappen Kommentar anzuführen.
Eine Verbindung zur Ermordung der Juden, also die T4-Aktion als Vorlauf des Holocaust, kann man vielleicht mit Bezug auf das Ausprobieren verschiedener Tötungsarten sehen. Da galten die Ärzte des T4-Programms als "Spezialisten" (Gift, Gas,Verhungern lassen).
Die Vernichtung der Juden hatte aber andere, wenn auch nicht weniger perfide, ideologische Wurzeln.
Sie galten den Nationalsozialisten und auch vielen völkischen Kreisen, als dasjenige Volk, das dem Aufstieg der Deutschen als Herren- und Herrschaftsrasse in Europa im Wege stand. Während sich die Nazis im Osten „minderwertigen" Völkern gegenüber glaubten, die man versklaven, ausbeuten und durch die Vernichtung ihrer Eliten zu kontrollieren gedachte, die man auch „durch Arbeit vernichten“ wollte, galten die Juden als Todfeinde. Sie sollten, selbst unter den ungünstigsten eigenen Bedingungen, mit allen Mitteln vernichtet werden. - Diese Haltung war mit der Fortdauer des Krieges nicht durchzuhalten. Nun sollten auch Teile der in den KZs und Ghettos gesammelten Juden produktiv für den „Endsieg“ arbeiten, „durch Arbeit vernichtet“ werden und, dies galt für einige Spezialisten, kriegsnützliche Aufgaben erfüllen.
Die eugenischen Mordprogramme, allesamt von einer Elite der deutschen Ärzte, von ganzen Hochschulabteilungen und deren Professoren, sowie zahlreichen Studenten mit getragen, reihen sich ein in eine Vielzahl ähnlich perfider Taten, wie z.B. die medizinischen Versuche an KZ-Häftlingen im Reichsgebiet, z.B. in Dachau, und dann vor allem in Auschwitz.
Mittlerweile ist aus umfangreichen Studien und den Erlebnisberichten der Häftlingsärzte und Pfleger, sowie überlebender Betroffener bekannt, dass an diesen Versuchen zahlreiche Ärzte mitarbeiteten, die die Versuche, aber auch die eugenische Selektion, befürworteten, aber z.B. die nochmals gesteigerte Grausamkeit, bei den Programmen ablehnten. - So erwies sich Dr. Rascher, einer der Leiter medizinischer Versuche in Dachau, als Sadist, der seine menschlichen „Versuchskaninchen“ selten davon kommen ließ, auch wenn sie den an sich schon grausamen Versuch überlebt hatten.
Gedanklich war man vollkommen eingenommen davon, man könne mit der gerade erst entstehenden, wissenschaftlichen Vererbungslehre und Humangenetik, wesentliche Verbesserungen am „Volkskörper“ erzielen und dafür sei auch der Preis, nämlich unärztlich zu handeln, ein geringer. Die Flugmediziner und Physiologien (Unterkühlungs- und Druckversuche), Pharmakologen (medizinische Biochemiker, z.B. Sulfonamide) und Infektiologen (Malaria, Gelbsucht, Typhus,...) schrieben immer wieder von den „unglaublichen Möglichkeiten“, die sich ihnen boten, statt in Labors und an Versuchstieren, nun rücksichtslos an Menschen experimentieren zu können.
Einmal abgesehen davon, dass schon die wissenschaftliche Basis fast aller eugenischer Maßnahmen zweifelhaft war , gilt das noch viel mehr für die Menschenversuche, die unbeschreibliche Qualen ins Werk setzten, aber in medizinischer Hinsicht nicht nur unethisch, sondern auch noch völlig ohne Erfolgsaussicht betrieben wurden. Ein Teil der medizinschen Versuche war direkt von Himmler angeordnet, der noch seltsamere Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Genetik vertrat, als jene überzeugten, allesamt an der modernen Medizin interessierten NS-Ärzte.
Stille und schleichende „Zuchtwahl“: Die Zukunft der Medizin wird sicher mitgepägt von einem neu erwachten und heute noch mehr verfeinerten Denken um die Verbesserung des Erbmaterials durch Auslese. Heute scheint es noch so, als sei die Auswahl (Selektion) von befruchteten Eizellen, aber auch die Voruntersuchung von Samen und Eizellen, das Screening nach Erbkrankheiten, ein individueller Akt, der die Furcht und die Ängste individueller Familien, nach einer genetischen Beratung reduziert, also sehr segensreich für Einzelne wirkt. - Unter diesen Gesichtspunkten betreiben auch bestimmte jüdische Subcommunities recht regelmäßig das genetische Screening unter ihren Angehörigen.
Die Kataloge der vermeintlichen Ausschlusskriterien werden aber länger, die Ansprüche der möglichen Eltern immer höher und die Zugänge zu den Verfahren, zumindest in den westlichen Ländern, in der reichen Oberschicht Chinas oder in anderen Schwellenländer, immer günstiger.
Das Genmaterial aus den Zellhaufen kann heute weitestgehend maschinell vermehrt und dann ebenso automatisiert, auf bekannte Gendefekte hin ausgewertet werden.
Bisher gibt es noch keinen gesellschaftlichen Umschlag, der aus der mittlerweile schon recht routinierten, individuellen Auswahl, eine gesellschaftliche Pflicht für potenzielle Eltern und für die betreuenden Ärzte ableitete. Noch herrscht große Einigkeit und auch eine religiös gestützte Bindung, die uns schwere Behinderungen und Krankheiten als lebbares Menschenschicksal auffassen lässt.
Wer garantiert aber, dass die Ausschluss-Kataloge für die „Wunschkinder“ begrenzt bleiben? Wer garantiert, dass die Ablehnung von Gentests und auch die Ablehnung von Abtreibungen bei festgestellten Gendefekten, nicht zu einem Stigma werden? Wer garantiert, dass nur recht strenge, medizinische Kritierien angewandt werden und sich das Screening nicht auf sozialwirksame Faktoren, wie z.B. Geschlecht, prognostizierte Körpergröße, prognostizierte Intelligenzmaße, u.ä., ausdehnt? Wer definiert, ab welcher Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere eine mögliche, genetisch verursachte Erkrankung oder Behinderung als zu großes und nicht tragbares Risiko zu gelten hat? Privat organisiert und gut honoriert, lässt sich in einigen Ländern sehr viel mehr testen und vorher bestimmen, als derzeit bei uns. Wer das Geld zur Verfügung hat, der greift immer häufiger zu diesen Methoden und lässt sich in den Staaten, in England, Südamerika, Thailand beraten und testen und da ensteht dann das Wunschkind.
Beste Grüße und weiter
Christoph Leusch
Die in der Breite nicht lesbaren Kommentare werden generell bei einer Antwort lesbar in der Referenz. Klingt wirr? Einfach den Button über den Columbus in ihrer Antwort halten. Dann wird der Text nochmal lesbar dargestellt. Umständlich aber hilft hoffentlich.
greetings from the pit - abghoul
Das hat wohl ebenfalls nicht geklappt. Nun also Versuch 2:
Liebe Frau Baureithel,
Mit den meisten Einschätzungen zu Alys Buch habe ich kein Problem. - Es spricht viel dafür, dass Wahrheiten zum Nationalsozialismus und jenem Dritten Reich immer wieder neu ausgesprochen werden müssen. Zukünftig muss das sogar ohne die letzten Zeitzeugen geschehen.
Die von Binding und Hoche, einem Juristen und einem Arzt erstmals 1920, genauestens beschriebene Selektion, zur vorgeblichen genetischen Verbesserung des Volkes, eine Perversion des Begriffes Euthanasie, -sie sollte heute besser Euthanasie-Morde oder eugenische Morde genannt werden-, wurde unter den Nazis, aber mit Zustimmung sehr vieler, biologistisch orientierter Ärzte, die diese Gedanken lange schon vor dem Dritten Reich hatten, ins Werk gesetzt.
Das schmale Buch "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form", war unter Ärzten und Juristen bekannt. Binding sprach von „Nebenmenschen“ über deren Weiterleben zu entscheiden wäre, Hoche prägte den Begriff der „Balastexistenzen“ (http://www.staff.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html ). - Ja, wie sie, Frau Baureithel, es schon einmal berichteten, es gab vor 1933 auch jüdische Ärzte, die sich für Eugenik und Erbgesundheit interessierten und diesen Thesen zustimmten. Wo anders als in Berlin, hätte man dazu besser forschen können ( http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=8&ved=0CGIQFjAH&url=http%3A%2F%2Fdg.philhist.unibas.ch%2Findex.php%3Fid%3D3373%26no_cache%3D1%26file%3D470%26uid%3D2545&ei=26lIUdWVOIrJswbU0YHgBA&usg=AFQjCNGKYTO3t0H7bRQQJEFYU_cUhANbIA&bvm=bv.43828540,d.Yms&cad=rja )?
Es gab sie in der ganzen angelsächsischen Welt, sogar mit herausragenden Vertretern, sogar mit politischer Unterstützung, die das auf der Grundlage einer utilitaristischen Ethik vertraten, auch im stalinistischen Russland. Schließlich hatten da viele ihr Wissen und ihre Haltung von der damals führenden, deutschen Medizin.
Tatsächlich wurde das T4 (Tiergartenstraße 4, Sitz der Leitung) Programm offiziell 1941 eingestellt, nachdem es zahlreiche Eingaben der betroffenen Familien und Proteste der Kirchen gab. Aber die NS-Ärzte Bouhler und Brandt, verantwortlich und von Hitler autorisiert, unterstützten die Fortführung an anderen "Heil- und Pflegeanstalten" und dazu zahlreiche Menschenversuche, die, z.B. in den besetzten Gebieten im Osten, sogar noch ausgeweitet wurden.
Systematisch fanden Tötungen bis 1944, in Hartheim bei Linz statt, etwas kürzer in Bernburg und Sonnenstein, bis 1943. Wie verbreitet der Gedanke war, die "Eugenik" überall anzuwenden, zeigen auch zahlreiche sporadische Aktionen im ganzen Reichsgebiet und in den Protektoraten. Später wurden Tötungen vorgenommen, um Lazarettplätze in den Einrichtungen zur Verfügung zu haben. Gemordet wurde praktisch bis in die letzten Kriegsmonate hinein.
Alle Mordaktionen in diesem Zusammenhang sind grauenhaft und beispiellos. Besonders perfide waren die meist verschleierten (erlogene Todesursachen gegenüber den Angehörigen) Morde an den Kindern- und Jugendlichen in den Heimen. Sie wurden vor allen anderen Verbrechen im T4 Programm durchgeführt.
Nebenher lief das reichsweite Zwangssterilisationsprogramm, dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, deren Gene als unwürdig, volksfremd, geschädigt oder risikobehaftet galten. Die Zahl und Art derjenigen Opfer, die unter diese grausame und verstümmelende Maßgabe fielen, sie ist zu umfangreich, um sie in einem knappen Kommentar anzuführen.
Eine Verbindung zur Ermordung der Juden, also die T4-Aktion als Vorlauf des Holocaust, kann man vielleicht mit Bezug auf das Ausprobieren verschiedener Tötungsarten sehen. Da galten die Ärzte des T4-Programms als "Spezialisten" (Gift, Gas,Verhungern lassen).
Die Vernichtung der Juden hatte aber andere, wenn auch nicht weniger perfide, ideologische Wurzeln.
Sie galten den Nationalsozialisten und auch vielen völkischen Kreisen, als dasjenige Volk, das dem Aufstieg der Deutschen als Herren- und Herrschaftsrasse in Europa im Wege stand. Während sich die Nazis im Osten „minderwertigen" Völkern gegenüber glaubten, die man versklaven, ausbeuten und durch die Vernichtung ihrer Eliten zu kontrollieren gedachte, die man auch „durch Arbeit vernichten“ wollte, galten die Juden als Todfeinde. Sie sollten, selbst unter den ungünstigsten eigenen Bedingungen, mit allen Mitteln vernichtet werden. - Diese Haltung war mit der Fortdauer des Krieges nicht durchzuhalten. Nun sollten auch Teile der in den KZs und Ghettos gesammelten Juden produktiv für den „Endsieg“ arbeiten, „durch Arbeit vernichtet“ werden und, dies galt für einige Spezialisten, kriegsnützliche Aufgaben erfüllen.
Die eugenischen Mordprogramme, allesamt von einer Elite der deutschen Ärzte, von ganzen Hochschulabteilungen und deren Professoren, sowie zahlreichen Studenten mit getragen, reihen sich ein in eine Vielzahl ähnlich perfider Taten, wie z.B. die medizinischen Versuche an KZ-Häftlingen im Reichsgebiet, z.B. in Dachau, und dann vor allem in Auschwitz.
Mittlerweile ist aus umfangreichen Studien und den Erlebnisberichten der Häftlingsärzte und Pfleger, sowie überlebender Betroffener bekannt, dass an diesen Versuchen zahlreiche Ärzte mitarbeiteten, die die Versuche, aber auch die eugenische Selektion, befürworteten, aber z.B. die nochmals gesteigerte Grausamkeit, bei den Programmen ablehnten. - So erwies sich Dr. Rascher, einer der Leiter medizinischer Versuche in Dachau, als Sadist, der seine menschlichen „Versuchskaninchen“ selten davon kommen ließ, auch wenn sie den an sich schon grausamen Versuch überlebt hatten.
Gedanklich war man vollkommen eingenommen davon, man könne mit der gerade erst entstehenden, wissenschaftlichen Vererbungslehre und Humangenetik, wesentliche Verbesserungen am „Volkskörper“ erzielen und dafür sei auch der Preis, nämlich unärztlich zu handeln, ein geringer. Die Flugmediziner und Physiologien (Unterkühlungs- und Druckversuche), Pharmakologen (medizinische Biochemiker, z.B. Sulfonamide) und Infektiologen (Malaria, Gelbsucht, Typhus,...) schrieben immer wieder von den „unglaublichen Möglichkeiten“, die sich ihnen boten, statt in Labors und an Versuchstieren, nun rücksichtslos an Menschen experimentieren zu können.
Einmal abgesehen davon, dass schon die wissenschaftliche Basis fast aller eugenischer Maßnahmen zweifelhaft war , gilt das noch viel mehr für die Menschenversuche, die unbeschreibliche Qualen ins Werk setzten, aber in medizinischer Hinsicht nicht nur unethisch, sondern auch noch völlig ohne Erfolgsaussicht betrieben wurden. Ein Teil der medizinschen Versuche war direkt von Himmler angeordnet, der noch seltsamere Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Genetik vertrat, als jene überzeugten, allesamt an der modernen Medizin interessierten NS-Ärzte.
Stille und schleichende „Zuchtwahl“: Die Zukunft der Medizin wird sicher mitgepägt von einem neu erwachten und heute noch mehr verfeinerten Denken um die Verbesserung des Erbmaterials durch Auslese. Heute scheint es noch so, als sei die Auswahl (Selektion) von befruchteten Eizellen, aber auch die Voruntersuchung von Samen und Eizellen, das Screening nach Erbkrankheiten, ein individueller Akt, der die Furcht und die Ängste individueller Familien, nach einer genetischen Beratung reduziert, also sehr segensreich für Einzelne wirkt. - Unter diesen Gesichtspunkten betreiben auch bestimmte jüdische Subcommunities recht regelmäßig das genetische Screening unter ihren Angehörigen.
Die Kataloge der vermeintlichen Ausschlusskriterien werden aber länger, die Ansprüche der möglichen Eltern immer höher und die Zugänge zu den Verfahren, zumindest in den westlichen Ländern, in der reichen Oberschicht Chinas oder in anderen Schwellenländer, immer günstiger.
Das Genmaterial aus den Zellhaufen kann heute weitestgehend maschinell vermehrt und dann ebenso automatisiert, auf bekannte Gendefekte hin ausgewertet werden.
Bisher gibt es noch keinen gesellschaftlichen Umschlag, der aus der mittlerweile schon recht routinierten, individuellen Auswahl, eine gesellschaftliche Pflicht für potenzielle Eltern und für die betreuenden Ärzte ableitete. Noch herrscht große Einigkeit und auch eine religiös gestützte Bindung, die uns schwere Behinderungen und Krankheiten als lebbares Menschenschicksal auffassen lässt.
Wer garantiert aber, dass die Ausschluss-Kataloge für die „Wunschkinder“ begrenzt bleiben? Wer garantiert, dass die Ablehnung von Gentests und auch die Ablehnung von Abtreibungen bei festgestellten Gendefekten, nicht zu einem Stigma werden? Wer garantiert, dass nur recht strenge, medizinische Kritierien angewandt werden und sich das Screening nicht auf sozialwirksame Faktoren, wie z.B. Geschlecht, prognostizierte Körpergröße, prognostizierte Intelligenzmaße, u.ä., ausdehnt? Wer definiert, ab welcher Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere eine mögliche, genetisch verursachte Erkrankung oder Behinderung als zu großes und nicht tragbares Risiko zu gelten hat? Privat organisiert und gut honoriert, lässt sich in einigen Ländern sehr viel mehr testen und vorher bestimmen, als derzeit bei uns. Wer das Geld zur Verfügung hat, der greift immer häufiger zu diesen Methoden und lässt sich in den Staaten, in England, Südamerika, Thailand beraten und testen und da ensteht dann das Wunschkind.
Beste Grüße und weiter
Christoph Leusch
Leider hatte ich keine Kopie des Textes. Das Einkopieren des markierten Textes auf der dFC-Seite in einen Texteditor funktioniert jedoch. Da ist der Text dann wieder vollständig lesbar.
Wenn ich ihn hier wieder einstelle, selbst nach Wechsel zum Standardformat, ist dann die Seite wieder abgeschnitten (irgend ein Html-Problem schätze ich). Es liegt bestimmt an mir und an der Formatierung des Textes. Ich weiß nur nicht, woran genau. Schade. Bin in Eile und kann jetzt nicht weiter basteln.
Beste Grüße
Christoph Leusch
Danke für den Hinweis, funktioniert aber nicht.
habe mir den Text aber von den Kollegen noch mal geben lassen.
"Mit den meisten Einschätzungen zu Alys Buch habe ich kein Problem. - Es spricht viel dafür, dass Wahrheiten zum Nationalsozialismus und jenem Dritten Reich immer wieder neu ausgesprochen werden müssen. Zukünftig muss das sogar ohne die letzten Zeitzeugen geschehen.
Die von Binding und Hoche, einem Juristen und einem Arzt erstmals 1920, genauestens beschriebene Selektion, zur vorgeblichen genetischen Verbesserung des Volkes, eine Perversion des Begriffes Euthanasie, -sie sollte heute besserEuthanasie-Morde oder eugenische Morde genannt werden-, wurde unter den Nazis, aber mit Zustimmung sehr vieler, biologistisch orientierter Ärzte, die diese Gedanken lange schon vor dem Dritten Reich hatten, ins Werk gesetzt.
Das schmale Buch "Die Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form", war unter Ärzten und Juristen bekannt. Binding sprach von „Nebenmenschen“ über deren Weiterleben zu entscheiden wäre, Hoche prägte den Begriff der „Balastexistenzen“ (http://www.staff.uni-marburg.de/~rohrmann/Literatur/binding.html ). - Ja, wie sie, Frau Baureithel, es schon einmal berichteten, es gab vor 1933 auch jüdische Ärzte, die sich für Eugenik und Erbgesundheit interessierten und diesen Thesen zustimmten. Wo anders als in Berlin, hätte man dazu besser forschen können (http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=8&ved=0CGIQFjAH&url=http%3A%2F%2Fdg.philhist.unibas.ch%2Findex.php%3Fid%3D3373%26no_cache%3D1%26file%3D470%26uid%3D2545&ei=26lIUdWVOIrJswbU0YHgBA&usg=AFQjCNGKYTO3t0H7bRQQJEFYU_cUhANbIA&bvm=bv.43828540,d.Yms&cad=rja)?
Es gab sie in der ganzen angelsächsischen Welt, sogar mit herausragenden Vertretern, sogar mit politischer Unterstützung, die das auf der Grundlage einer utilitaristischen Ethik vertraten, auch im stalinistischen Russland. Schließlich hatten da viele ihr Wissen und ihre Haltung von der damals führenden, deutschen Medizin.
Tatsächlich wurde das T4 (Tiergartenstraße 4, Sitz der Leitung)Programm offiziell 1941 eingestellt, nachdem es zahlreiche Eingaben der betroffenen Familien und Proteste der Kirchen gab. Aber die NS-Ärzte Bouhler und Brandt, verantwortlich und von Hitler autorisiert, unterstützten die Fortführung an anderen "Heil- und Pflegeanstalten" und dazu zahlreiche Menschenversuche, die, z.B. in den besetzten Gebieten im Osten, sogar noch ausgeweitet wurden.
Systematisch fanden Tötungen bis 1944, in Hartheim bei Linzstatt, etwas kürzer in Bernburg und Sonnenstein, bis 1943. Wie verbreitet der Gedanke war, die "Eugenik" überall anzuwenden, zeigen auch zahlreiche sporadische Aktionen im ganzen Reichsgebiet und in den Protektoraten. Später wurden Tötungen vorgenommen, um Lazarettplätze in den Einrichtungen zur Verfügung zu haben. Gemordet wurde praktisch bis in die letzten Kriegsmonate hinein.
Alle Mordaktionen in diesem Zusammenhang sind grauenhaft und beispiellos. Besonders perfide waren die meist verschleierten (erlogene Todesursachen gegenüber den Angehörigen) Morde an den Kindern- und Jugendlichen in den Heimen. Sie wurden vor allen anderen Verbrechen im T4 Programm durchgeführt.
Nebenher lief das reichsweite Zwangssterilisationsprogramm,dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen, deren Gene als unwürdig, volksfremd, geschädigt oder risikobehaftet galten. Die Zahl und Art derjenigen Opfer, die unter diese grausame und verstümmelende Maßgabe fielen, sie ist zu umfangreich, um sie in einem knappen Kommentar anzuführen.
Eine Verbindung zur Ermordung der Juden, also die T4-Aktion als Vorlauf des Holocaust, kann man vielleicht mit Bezug auf das Ausprobieren verschiedener Tötungsarten sehen. Da galten die Ärzte des T4-Programms als "Spezialisten" (Gift, Gas,Verhungern lassen).
Die Vernichtung der Juden hatte aber andere, wenn auch nicht weniger perfide, ideologische Wurzeln.
Sie galten den Nationalsozialisten und auch vielen völkischen Kreisen, als dasjenige Volk, das dem Aufstieg der Deutschen als Herren- und Herrschaftsrasse in Europa im Wege stand. Während sich die Nazis im Osten „minderwertigen" Völkern gegenüber glaubten, die man versklaven, ausbeuten und durch die Vernichtung ihrer Eliten zu kontrollieren gedachte, die man auch „durch Arbeit vernichten“ wollte, galten die Juden als Todfeinde. Sie sollten, selbst unter den ungünstigsten eigenen Bedingungen, mit allen Mitteln vernichtet werden. - Diese Haltung war mit der Fortdauer des Krieges nicht durchzuhalten. Nun sollten auch Teile der in den KZs und Ghettos gesammelten Juden produktiv für den „Endsieg“ arbeiten, „durch Arbeit vernichtet“ werden und, dies galt für einige Spezialisten, kriegsnützliche Aufgaben erfüllen.
Die eugenischen Mordprogramme, allesamt von einer Elite der deutschen Ärzte, von ganzen Hochschulabteilungen und deren Professoren, sowie zahlreichen Studenten mit getragen, reihen sich ein in eine Vielzahl ähnlich perfider Taten, wie z.B. die medizinischen Versuche an KZ-Häftlingen im Reichsgebiet, z.B. in Dachau, und dann vor allem in Auschwitz.
Mittlerweile ist aus umfangreichen Studien und den Erlebnisberichten der Häftlingsärzte und Pfleger, sowie überlebender Betroffener bekannt, dass an diesen Versuchen zahlreiche Ärzte mitarbeiteten, die die Versuche, aber auch die eugenische Selektion, befürworteten, aber z.B. die nochmals gesteigerte Grausamkeit, bei den Programmen ablehnten. - So erwies sich Dr. Rascher, einer der Leiter medizinischer Versuche in Dachau, als Sadist, der seine menschlichen „Versuchskaninchen“ selten davon kommen ließ, auch wenn sie den an sich schon grausamen Versuch überlebt hatten.
Gedanklich war man vollkommen eingenommen davon, man könne mit der gerade erst entstehenden, wissenschaftlichen Vererbungslehre und Humangenetik, wesentliche Verbesserungen am „Volkskörper“ erzielen und dafür sei auch der Preis, nämlich unärztlich zu handeln, ein geringer. Die Flugmediziner und Physiologien (Unterkühlungs- und Druckversuche), Pharmakologen (medizinische Biochemiker, z.B. Sulfonamide) und Infektiologen (Malaria, Gelbsucht, Typhus,...) schrieben immer wieder von den „unglaublichen Möglichkeiten“, die sich ihnen boten, statt in Labors und an Versuchstieren, nun rücksichtslos an Menschen experimentieren zu können.
Einmal abgesehen davon, dass schon die wissenschaftliche Basis fast aller eugenischer Maßnahmen zweifelhaft war , gilt das noch viel mehr für die Menschenversuche, die unbeschreibliche Qualen ins Werk setzten, aber in medizinischer Hinsicht nicht nur unethisch, sondern auch noch völlig ohne Erfolgsaussicht betrieben wurden. Ein Teil der medizinschen Versuche war direkt von Himmler angeordnet, der noch seltsamere Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Genetik vertrat, als jene überzeugten, allesamt an der modernen Medizin interessierten NS-Ärzte.
Stille und schleichende „Zuchtwahl“: Die Zukunft der Medizin wird sicher mitgepägt von einem neu erwachten und heute noch mehr verfeinerten Denken um die Verbesserung des Erbmaterials durch Auslese. Heute scheint es noch so, als sei die Auswahl (Selektion) von befruchteten Eizellen, aber auch die Voruntersuchung von Samen und Eizellen, das Screening nach Erbkrankheiten, ein individueller Akt, der die Furcht und die Ängste individueller Familien, nach einer genetischen Beratung reduziert, also sehr segensreich für Einzelne wirkt. - Unter diesen Gesichtspunkten betreiben auch bestimmte jüdische Subcommunities recht regelmäßig das genetische Screening unter ihren Angehörigen.
Die Kataloge der vermeintlichen Ausschlusskriterien werden aber länger, die Ansprüche der möglichen Eltern immer höher und die Zugänge zu den Verfahren, zumindest in den westlichen Ländern, in der reichen Oberschicht Chinas oder in anderen Schwellenländer, immer günstiger.
Das Genmaterial aus den Zellhaufen kann heute weitestgehend maschinell vermehrt und dann ebenso automatisiert, auf bekannte Gendefekte hin ausgewertet werden.
Bisher gibt es noch keinen gesellschaftlichen Umschlag, der aus der mittlerweile schon recht routinierten, individuellen Auswahl, eine gesellschaftliche Pflicht für potenzielle Eltern und für die betreuenden Ärzte ableitete. Noch herrscht große Einigkeit und auch eine religiös gestützte Bindung, die uns schwere Behinderungen und Krankheiten als lebbares Menschenschicksal auffassen lässt.
Wer garantiert aber, dass die Ausschluss-Kataloge für die „Wunschkinder“ begrenzt bleiben? Wer garantiert, dass die Ablehnung von Gentests und auch die Ablehnung von Abtreibungen bei festgestellten Gendefekten, nicht zu einem Stigma werden? Wer garantiert, dass nur recht strenge, medizinische Kritierien angewandt werden und sich das Screening nicht auf sozialwirksame Faktoren, wie z.B. Geschlecht, prognostizierte Körpergröße, prognostizierte Intelligenzmaße, u.ä., ausdehnt? Wer definiert, ab welcher Auftretenswahrscheinlichkeit und Schwere eine mögliche, genetisch verursachte Erkrankung oder Behinderung als zu großes und nicht tragbares Risiko zu gelten hat? Privat organisiert und gut honoriert, lässt sich in einigen Ländern sehr viel mehr testen und vorher bestimmen, als derzeit bei uns. Wer das Geld zur Verfügung hat, der greift immer häufiger zu diesen Methoden und lässt sich in den Staaten, in England, Südamerika, Thailand beraten und testen und da ensteht dann das Wunschkind."
@ Columbus
Ich verstehe Ihren Beitrag, da ich ihn nun lesen kann, eher als Ergänzung meines Artikels, muss aber in einem Punkt widersprechen. Sie schreiben:
Eine Verbindung zur Ermordung der Juden, also die T4-Aktion als Vorlauf des Holocaust, kann man vielleicht mit Bezug auf das Ausprobieren verschiedener Tötungsarten sehen.
Das stimmt wohl, ist aber eher die technische Seite der Angelegenheit. Ich denke - und so habe ich es auch geschrieben und gehe damit mit Aly einig -, dass die Aktion T4 ein Versuchsballon war, der austesten sollte, wie viel der deutschen Bevölkerung zuzumuten war, wie weit sie mitgehen würde, wo der neuralgische Punkt war, der Widerstand provozierte. Aly beschreibt das in seinem Buch auch sehr schön, wenn er zum Beispiel die Spitzel zitiert, die der NS-Staat ausschickte, um die "Stimmung" auszuloten.
Ideologigschen Prämissen verfolgte vielleicht weniger der utilitaristisch agierende Staat als vielmehr die Ärzteschaft mit ihren Vorstellungen von Gesundheit, vom neuen Menschen usw.
Die sog. "Verstrickung" gut beleumundeter Wissenschaftler in die "Versuchsanordnung" des NS lässt sich übrigens sehr schön in den verschiedneen Studienüber die Vorgänger-Institutionen der Max-Planck-Insitute - die Kaiser-Wilhelm-Institute - nachlesen, die alle im Wallstein-Verlag erschienen sind, die übrigens bei Aly nicht berücksichtigt werden.
ad Ulrike Baureithel 22.03.2013 | 12:26
Schön, dass sie den Text doch noch lesen konnten, Frau Baureithel.
Ich habe dieser Ansicht, die T4-Aktion sei ein Propädeutikum, ein Test für den Holocaust auch deswegen widersprochen, weil ich doch die These nicht aufgeben möchte, der systematische Judenmord sei eine singuläre historische Tat war. Dafür gibt es, in meinen Augen, immer noch ausreichend gute Gründe.
Es speiste sich eben nicht aus dem Teil, den man, sehr nüchtern betrachtet, den "modernen", (pseudo)positivistischen, pseudowissenschaftlichen Anteil am Nationalsozialismus nennen könnte.
Einmal abgesehen davon, dass die nationalsozialistischen Eliten, die z.B. T4 in Gang setzten oder die Idee vom Lebensraum im Osten, samt der "minderwertigen" Völker, die als Sklavenvölker und Eigentum der Deutschen anzusehen waren, aus denen man allenfalls noch ein paar junge Menschen heraus fischen wollte, die man "aufnorden" konnte, die Erkenntnisgrundlagen, also die Fakten, gar nicht kannten, also die Biologie, Darwins Evolutionstheorem, die daraus abgeleiteten, biologistischen Begriffe, falsch verstanden, stammte der radikale Antisemitismus und dann die Judenvernichtung, aus dem ideologischen Kern der nationalsozialistischen Anschauung, im Zentrum auch von Hitlers, Goebbels oder Himmlers Vorstellungen, weil sie die Juden als Herren und Lenker sowohl des "Bolschewismus", als auch des "Finanzplutokratismus" ansahen. Die Juden sollten verschwinden, weil sie die Konkurrenz, der Gegner waren und deren Auslöschung solllte selbst dann erfolgen, wenn sie im Sinne eines Nutzeffektes für das Dritte Reich im Weltanschauungskrieg völlig unproduktiv und sogar kontraproduktiv war.
Bei den Euthanasie-Morden, den Menschenversuchen, der Mordaktion gegen die polnische und tschechische Intelligenz, bei der Verfolgung der kommunistischen und sozialistischen Opposition, bei den Versuchen, eine "Zuchtwahl" für die "Volksgenossen" einzuführen, standen immer (pseudo)logische Kalküle, wenn auch aus einer völlig falschen Interpretation der intellektuellen Zeugen und der Wissenschaften, Pate, die die Nazis mit vielen gebildeten Menschen, sogar mit Juden, weit über die Grenzen Deutschland und Europas hinaus, teilten.
Eugenik, Rassenlehre, Erbiologie, Sozialdarwinismus, entstammen, wie sie ja schon schrieben, aus dem Wissenschaftsdenken der Zeit.
Der Judenhass aber, besonders dessen eliminatorischer Charakter, hatte keine wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Basis. Ganz im Gegenteil: Die Juden ließen sich in das Rasse und Biologieschema einfach nicht einbinden und sie hatten sich, in einer häufig feindlichen Umwelt, gegen Widerstände durchgesetzt, hätten also, nach der sozialdarwinistischen und völkischen Lehre, als erwiesen erfolgreich gelten müssen. Sie galten trotzdem, nein, gerade deswegen, als die eigentlichen Todfeinde, nach denen man auch mit absurden Methoden zu suchen begann, weil Juden so arisch auftreten konnten. - Es gibt doch die berüchtigten Äußerungen, die Welt werde den Deutschen noch einmal dankbar sein, für die "große Tat" der "Endlösung".
Für die Deportierung und dann die Ermordung der Juden, das ist vielleicht die traurigste Erkenntnis, war kaum Widerstand in der Bevölkerung zu überwinden. Die Juden mussten fort, egal wie, und bis heute reden die letzten noch lebenden Zeitzeugen, besonders die ganz prominenten, z.B. Helmut Schmidt, sie hätten wenig oder nichts gewusst, was denn nach dem "Wegzug", nach der Auflösung der Geschäfte, nach dem die Lastwagen vor der Türe standen und die Züge rollten, passierte und passieren musste, man sei mit sich selbst beschäftigt gewesen.
Die Empathie und Anteilnahme am Schicksal der Juden hielt sich bei der großen Mehrheit in sehr engen Grenzen. Ich könnte das nun an einigen überlieferten Fallgeschichten aus dem Rhein-Mosel-Raum, der aufgrund seiner katholischen Bevölkerung zunächst eher distanziert zum Nationalsozialismus stand, aufzeigen. Es galt sowohl für das Land, als dort die Metzger und Krämer, die Viehhändler, wegziehen mussten, es galt in der Stadt, als auch jüdische Rechtsanwälte, Lehrer, Ärzte ihre Arbeit aufgeben mussten und später deportiert wurden.
Allerdings, weil diese nationalsozialistische Wendung auch vielen Deutschen nicht recht plausibel schien, musste Goebbels in seinen Propagandafilmen, den Spielfilmen (Jud Süss), den Pseudodokumentationen, das jüdische Ghetto oder das Stetl als Ort der Verlausten und Zerlumpten, auf jeden Fall der Inferioren und der Kranken, der ansteckenden Menschen, ausmalen und eine typische Morphologie des Juden erfinden.
Sie sehen, ich habe schon Gründe, warum ich da so entschieden anderer Meinung bin.
Beste Grüße und gutes WE
Christoph Leusch
PS: Jetzt ist ihre Antwort auch abgeschnitten. Ich habe keine Idee, warum das so ist.
"Die heutige vorauseilende Vermeidung von Krankheits- oder Behinderungsrisiken (...; nicht) vergleichbar; wohl aber der damit einhergehende selektive Blick und die utilitaristischen Abwägungen." beschreibt leider nicht nur ungenau die Quintssenz der massenhaften Erfahrung mit dem Umschlag von vorgeblicher Fürsorge in Mord, sondern liefert - da der Beginn des Lebens natürlich auf folgende Lebensphasen ausgeweitet wird - leider auch das Sprüchlein für das eskamotierte mächtige Taboo der ganzen Nachkriegs-Aufarbeitung dieser Gräuel. Diese Diffamation des Blicks als Werkzeug des Bösen zur Selektion kann nämlich weder den vielschichtigen Fragen des Nützlichen oder des Unterscheidenden, anders als "reduktionistisch" in der Form einer scham- und empörungsbehafteten blossen Antithese zu NS-Diskursen gerecht werden.
Dieser Diskurs entspricht auch zentral der Weizsäckerschen (Täter)-Zeugenaussage in Nürnberg: Vermessung, nicht etwa mörderische Aggression, hätten zu Auschwitz geführt - wobei es die mörderische, in aller Regel sinnwidrig und ungenau durchgeführte Vermessung im Dienste rassistischer oder anderer Vorurteile leider auch gibt, und diese zudem zur nur durch Unachtsamkeit für das Wunder des Gegenübers "unmenschlichen", intrusiven Vermessung, allerdings lange, Übergänge zeigt .
Nichtsdestoweniger ist das Nebenprodukt ein Taboo, welches es nämlich am wirksamsten ermöglicht, dass man sich nach der psychologisch-medizinisch messbaren Psychopathologie der Täter, denen man ja hierin - wie gerade wiederum Götz Aly in " Unser Kampf!" gezeigt hat - oft gar nicht so unähnlich war, nicht mehr zu erkundigen braucht.
Das Entsetzliche ist, dass es speziell die menschlich motivierten und fleissigen Träger namentlich von zu Manie veranlagenden Genen , welche in Wechselwirkung mit individuellen (!!) Umweltfaktoren sehr zu Gewalttaten und Zynismus (Aber auch zu Fleiss und Widerstand!) veranlagen, es geschafft haben, ausgerechnet im Namen der Opfer jede Diskussion darüber zu ersticken, an welcher "emotional ansteckenden" Krankheit Himmler und Co. eigentlich litten, wie diese präventiv gemessen werden kann und was zu tun sei, um die Schattenseiten derselben zu mildern.
Genauso vergass man in welcher Tradition bis heute "Deutsche" autoritäre Psychoanalyse, mit ihrer hohenpriesterlichen Hetze gegen symptomorientierte Diagnostik, steht, und dass durchaus auch die forschend-klassifizierende, des Reduktionismus geschmähte, häufig sehr viel psychodynamischere (!), biologische Psychiatrie nicht wenige valide Antworten auf diese Menschheitsfragen geliefert hat.
Dass es aber psychische Kranke waren, die sich aus konzipierbaren Gründen mörderisch gegen andere psychisch Kranke entfesselt haben, will niemand auch nur ansatzweise vermuten - obgleich nicht wenige vor allem bipolare Patienten uns Psychiatern und Psychologen täglich lächelnd nicht nur phantasierte Gewaltakte, bis zu Mord und Vernichtung, in allen Formen anvertrauen.
Angetriebenheit schlägt nun mal in Destruktivität um, was die Verurteilungsquote von 4,7% wenig hospitalisierter Bipolarer in zehn Jahren in München oder generell der deutsche Mutwille eindeutig belegt haben.
Die Deutsche "68ger" Nachkriegspsychiatrie weigert sich - trotz eindeutiger globaler Konzept- und Datenlage - bis heute, schwer angetriebene, oft gewalttätige Kinder, Bordeline-PS, "andere" schwere psychische Erkrankungen, Kriminelle oder Greise auf Manie auch nur zu untersuchen, geschweige denn, eine „Verdinglichung des Bösen“ auch nur anzudenken.
Auch die Jahrhunderte lange Verfolgung der Juden hat ihren Nexus zur Manie, da nur der bis zu Calvin einzig jüdische Kredit (oder jener bestimmter Orden oder Handelsfeudaler) es den Manikern erlaubt hat, direkten Einfluss auf das Wirtschaftsleben zu nehmen, was heute sogar wir schön vorgeführt bekommen.
Selbst auf dem jährlichen Psychiatriekongress ist diese Diskussion noch nicht möglich, obgleich viele im Seelischen Gesundheitswesen Tätige sich diese Gräuel vergegenwärtigen und sie zumindest mit grossem historisch reflektierten Einsatz zu verstehen versuchen.
Aber eben, die Interpretation verläuft seit Jahren leer und, seien wir ehrlich, sehr selbstgerecht im Kreis. Doch es sind die ungewissheits-orientierten Philosophen und Wissenschaftler, die mit der Depression fanatisch-cholerisch (R. Sorrentino. The Uncertain Mind) - und historisch, immer wieder, richtig gefährlich werden (wohingegen die Soldaten differenziert werden im Pech!).
Die Waffe der Kritik, vielleicht findet sie ja noch mal einen Wetzstein, sollte ja rekursiv sein ....