Der 1904 geborene Theodor K. litt unter Schizophrenie. Er war Patient in einer Göppinger Privatheilanstalt, bis er am 14. Oktober 1940 über mehrere Zwischenstationen in Grafeneck eingeliefert wurde. Das bei Reutlingen gelegene Behindertenheim war die erste von den Nationalsozialisten zur Tötungsanstalt von geistig kranken und behinderten Menschen umfunktionierte Einrichtung. Theodor K. wurde noch am Tag seiner Einlieferung am 29. November, zusammen mit 16 anderen Patienten, ermordet. Die Sterbeurkunde datiert allerdings vom 3. Dezember. Diagnose: Lungenentzündung, Blutsturz. So wurde es auch den Angehörigen in einem „Trostbrief“ mitgeteilt.
Frieda Rettschlag, geboren 1912, wuchs als uneheliches Kind bei Pflegeeltern auf. Als Vierjährige erlitt sie erstmals Krampfanfälle, wurde in die Heilanstalt Berlin-Wuhlgarten eingeliefert und mit Luminal behandelt. Ihr Schulbesuch endete nach der 4. Klasse, weil sie angeblich nicht genug leistete. 1935 entschied das Erbgesundheitsgericht Berlin auf Antrag des Anstaltsdirektors ihre Zwangssterilisation. Am 14. August 1940 verlegte man die junge Frau zunächst in die Zwischenanstalt Neuruppin, dann nach Brandenburg/Havel, wo sie nach ihrer Ankunft ermordet wurde.
Sechs Jahre später wird in der Badischen Zeitung ein Artikel von Alfred Döblin erscheinen, in dem er über eine Begegnung mit einem Arztkollegen im Schwarzwald berichtet. Dieser erzählte ihm „leicht benommen und erregt“ vom Abtransport der sogenannten Berliner „Listenkranken“, der, als „Fahrt ins Blaue“ deklariert, in Duschräumen endete, in denen statt Wasser Gas ausströmte. Das eigene schwächelnde Kind, bekannte der Psychiater dem Schriftsteller, habe er in dieser Zeit bei Freunden versteckt gehalten.
Die Aktion T4
Schätzungsweise 5.000 bis 6.000 Berliner fanden 1940/41 allein in Brandenburg-Görden, später in Bernburg, den Tod. Reichsweit waren es 200.000 Menschen, die im Rahmen des NS-Euthanasieprogramms umgebracht wurden. Um Genaueres über die Opfer zu erfahren, muss man schon zu den Veröffentlichungen der heutigen Gedenkstätten greifen, in diesem Fall zu Thomas Stöckles Grafeneck 1940 – Die Euthanasie-Verbrechen in Süddeutschland oder zur kürzlich erschienenen Dokumentation Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel, denn im kollektiven Gedächtnis haben die unter den Nazis verübten Krankenmorde offenbar keinen Platz.
Das hat, meint Götz Aly, in den achtziger Jahren einer der Protagonisten, die das Thema in die geschichtspolitische Bearbeitungszone rückten, einen guten Grund. Er rechnet hoch, dass zumindest jeder achte Deutsche oder Österreicher, der heute älter als 25 Jahre ist, direkt mit Menschen verwandt ist, „die zwischen 1939 und 1945 als ‚nutzlose Esser’ ermordet wurden“. Über sie wird nicht gesprochen, sie sind blinde Flecken in den Familienannalen. Wenn der Autor „die Belasteten“, so der Titel des Buchs, der Anonymität entreißen und ihnen ein Denkmal setzen will, dann spricht er gerade nicht nur über die Schicksale der Opfer und über die Täter, sondern auch über die Angehörigen der Ermordeten.
Die 1939 in Gang gesetzte „Geheime Reichssache Euthanasie“ verlief in zwei Phasen: Die nach der Mordzentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 genannte „Aktion T4“ umfasste die generalstabsmäßige Erfassung zunächst der Anstalten, dann der Insassen, einschließlich ihrer Klassifizierung und systematischen Vernichtung. In der zweiten Phase, die nach dem offiziellen Stopp des auch „Aktion Gnadentod“ genannten Programms im August 1941 einsetzte, wurden die Anstaltsinsassen nicht mehr nach „Plansoll“ vergast, sondern durch die Verlagerung in Siechen- und Sterbestationen „beschleunigt zu Tode gebracht“. Vorangegangen waren 1939/40 die Massaker an 13.000 polnischen psychisch Kranken, die in eigens dafür konstruierten Gaswagen ermordet wurden.
Den erwachsenen Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten wurde dabei weniger Aufmerksamkeit zuteil als kranken und behinderten Kindern, die in den berüchtigten Kinderfachabteilungen zusammengefasst und nach einer geradezu modern anmutenden Differentialdiagnose der tödlich verlaufenden „Behandlung“ zugeführt wurden. Insbesondere auf diese sogenannten „Reichsausschusskinder“ richteten sich die wissenschaftlichen Begehrlichkeiten, sei es für die Grundlagenforschung oder für angewandt medizinische Versuche.
Im Unterschied zum Erbgesundheitsgesetz von 1933, das die Praxis der Zwangssterilisation und -abtreibung legalisierte, ist das Sterbehilfegesetz, das Erb- und Geisteskranke aus der Volksgemeinschaft ausgrenzte und zur Tötung freigab, nie rechtswirksam geworden. Die weit in die zwanziger Jahre zurückreichende Euthanasie‑debatte hatte zwar den Humus bereitet, zwischen „lebenswertem“ und „nicht lebenswertem“ Leben zu unterscheiden, doch für die auf Rechtssicherheit drängenden Ärzte blieb es auch in der NS-Zeit nur beim Gesetzentwurf. Damit nahm Hitler Rücksicht auf die Gefühle derjenigen, die zwischen dem Wunsch nach Entlastung und gefühlsmäßiger Bindung schwankten, den betroffenen Angehörigen. Die Aktion T4 war, wie Aly eindrücklich nachzeichnet, der Testfall für den Holocaust: Was war innerhalb der Reichsgrenzen möglich, was waren Ärzte bereit, mit ihrem Ethos zu vereinbaren, und wie lange würde die Bevölkerung schweigen?
Möglich war, dass innerhalb von sechs Jahren rund 200.000 kranke, völlig wehrlose und hilfsbedürftige Menschen zunächst vergast, dann abgespritzt oder ausgehungert wurden. Wenig vielleicht im Vergleich zu den vielen Millionen Opfern des Nazi-Regimes, aber viel, wenn man bedenkt, dass die Behinderten und Kranken in staatlicher Obhut lebten, dass Ärzte und Pflegende für sie sorgten und es Verwandte gab, die sich mehr oder weniger um sie kümmerten.
Was die Ärzte betrifft, da pflügt Aly kein neues Feld um, waren es gerade keine „Monster“, sondern in vielen Fällen reformfreudige Wissenschaftler, die das Anstaltswesen umkrempeln und die als „therapiewürdig“ erachteten Patienten medizinisch besser versorgen wollten. Die gleichen Anstalten, in denen die „Überflüssigen“ dem Tod entgegensahen, wurden modernisiert. „Es ist doch herrlich“, zitiert Aly Paul Nitsche, Direktor der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein bei Dresden, „wenn wir in den Anstalten Ballast loswerden und nun die richtige Therapie treiben können.“
Verschämtes Einverständnis
Der „Anstaltsballast“ wurde aber nicht, darauf insistiert Aly, nach erbbiologischen Kriterien ausgesondert, sondern danach, wer noch produktiv war. Der krude Utilitarismus, der darauf abstellte, Kapazitäten umzuschichten, verwertbares „Menschenmaterial“ auszunutzen und den Rest zu liquidieren; Betten zu leeren zunächst für „Volksdeutsche“ aus dem Osten, später für Verletzte, Ausgebombte und Kriegsinvaliden: Dieser Befund ist die eine, um im Bild zu bleiben, Sprengbombe dieses Buches. Denn zwar folgte das Vernichtungsprogramm dem System des Holocaust – erfassen, aussondern, liquidieren –, nicht aber den Kriterien: Es ging ausschließlich darum, Ressourcen zu optimieren.
Die zweite verstörende Erkenntnis ist, dass bei diesem Mordkomplott keineswegs kriminelle Juristen, Verwaltungsbeamte, Ärzte und Pflegende auf der einen Seite unschuldigen, unwissenden Angehörigen auf der anderen gegenüberstanden. Die Eltern wurden mit Ausnahme von Berlin in der Regel informiert, bevor die Ärzte, die übrigens einen weiten Ermessensspielraum hatten, ein Kind einer „Sonderbehandlung“ zuführten oder ein Patient zunächst in eine Zwischenanstalt verlegt wurde. Oft reichten schon regelmäßige Besuche, um die Betroffenen vor der Gaskammer zu schützen. Was Hitler auf jeden Fall vermeiden wollte, war Unruhe in der Bevölkerung und Ärger mit der Kirche. Oft genug gab es ein verschämtes Einverständnis zwischen beschwichtigenden Ärzten und überforderten, ratlosen oder gleichgültigen Angehörigen, denen das Nichtwissenwollen leicht gemacht wurde. Deshalb stoppte Hitler nach den drei berühmten Kanzelreden des Münsteraner Bischofs von Galen im Juli/August 1941 zwar die Aktion T4, nicht aber das Morden, im Gegenteil: Die Todesindikationen wurden ausgeweitet auf Asoziale, Kriminelle, Fürsorgezöglinge und andere „Gemeinschaftsfremde“, die durch Arbeit vernichtet wurden. Und im Verlauf des Krieges scheint eine zunehmende Abstumpfung eingesetzt zu haben, wie Aly eindringlich dokumentiert. Die von Aly dokumentierten Botschaften aus den Gaskammern gehen unter die Haut.
In den sechziger Jahren
Dass der Autor seine persönliche Betroffenheit als Vater einer behinderten Tochter beim Gang durch die Anstalten, Gaskammern und Siechstationen nicht unterschlägt, bekräftigt den Furor seiner Forschung. Aber gerade weil er zeigt, dass die Logik der NS-Euthanasie auch den Berufslogiken von Wissenschaftlern und Anstaltsleitern und dem Affekthaushalt der Angehörigen entgegenkam, ist es unverständlich, weshalb er den Erkenntnishorizont nicht ausweitet auf die Kontinuitäten der von ihm skizzierten „biopolitischen Utopie von einer Gesellschaft leistungsstarker, lebensfreudiger und gesunder Individuen“.
Stattdessen lobt er den besonders behindertenfreundlichen deutschen Nachkriegssozialstaat, in dem ein Werner Catel, Leiter der Leipziger Kinderklinik, immerhin noch bis weit in die sechziger Jahre die „Tötung vollidiotischer Kinder“ propagieren durfte, wie Christoph Schneider in seiner Untersuchung Das Subjekt der Euthanasie nachzeichnet. Die heutige vorauseilende Vermeidung von Krankheits- oder Behinderungsrisiken am Beginn des Lebens, das sei deutlich gesagt, ist mit dem NS-Vernichtungsprogramm nicht vergleichbar; wohl aber der damit einhergehende selektive Blick und die utilitaristischen Abwägungen. In einer langen Nachbemerkung gibt der Autor zwar luzide Einblicke in die Genese der Euthanasie-Forschung und eine zunftfremde, immer noch ausgrenzende Wissenschaftsförderung, sie offenbart aber auch einen Autor, der in die zweifelhafte Rolle eines Plagiatsjägers schlüpft und den akademisch Avancierten kleinkrämerisch und gekränkt am Zeug flickt.
Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte Götz Aly S. Fischer 2013, 348 S., 22,99 €
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