Vor gut zwei Jahren war die berüchtigte Rostlaube der Freien Universität Berlin Schauplatz einer etwas geisterhaften Veranstaltung: Gedacht wurde jener Tomate, die, wie 1968 üblich, nicht etwa den Muff aus den Talaren treiben sollte, sondern auf den emanzipatorisch hochstilisierten Gruppenegoismus einer Jungmännergeneration zielte, die sich anschickte, nicht nur die Väter vom Thron zu verjagen, sondern gleichzeitig das weibliche Fußvolk in Besitz - genauer gesagt: in Gemeinbesitz - zu nehmen. Schon damals schien mir dies Andenken an den Aufbruch der westdeutschen Frauenbewegung unnötig harmlos, denn schließlich übernahm in deren Verlauf eine wenig zimperliche "Schwanz-ab"-Fraktion streckenweise die Führung.
Angelegentlich der nun wieder aufgeflammten männlichen Erinnerungsergüsse zum Mythos '68 und danach wird die Tomate allerdings zum fatalen Symbol weiblicher Friedfertigkeit. Denn wie anders wäre das momentane Schweigen des weiblichen Teils der "Bewegung" zu verstehen, wenn nicht als Verbeugung vor jenen martialischen Steinen, gegen die sich das Gemüse aus der heimischen Küche einfach lächerlich ausnimmt. Während die einstigen Steinewerfer ihr Verhältnis zur Gewalt "klären", indem sie ein schon frühzeitig eingeübtes Ritual bekennender Selbstkritik vor einer imaginären Inquisition wiederholen, überlassen "wir" Frauen wieder einmal das Parkett diesen Schwätzern, die Wörter wie Steine benutzen und die Bornheimer Landstraße 64 zelebrieren, als habe dort ein emanzipatorischer Familienroman seinen Ausgang genommen.
Dabei, das wird leicht vergessen im Dunst der Mythen, hat es diese "'68er-Generation" so wenig gegeben, wie die "Generation von 1914", von der Joscha Schmierer in der F.A.Z. schwadroniert. Schon die sogenannte "Generation von 1914" wusste wohl zu unterscheiden zwischen der "Frontgeneration", der "Kriegsjugendgeneration" und der Nachkriegsjugend; und einmal völlig davon abgesehen, dass der permanent vorgestellte "Ausnahmezustand" der Nachachtundsechziger zwar zur ständigen politischen "Entscheidung" zwang, aber eben nicht wirklich "ins Feuer" (jedenfalls, soweit man den Schritt in die RAF nicht unternahm), war es durchaus ein Unterschied, ob man den Deutungsmächtigen in den siebziger Jahren begegnete als altgedientes "Frontschwein" oder als nachgeborene "Nachhut", die sich - aus welchen Gründen auch immer - den ML-Gruppen oder den Sponties anschloss.
Liberaler Feuilleton-Konsens ist es mittlerweile, die Geschichte von 1968 und dem folgenden Jahrzehnt als eine "Erfolgsgeschichte" abzuhandeln, die die "schrittweise Selbstzivilisation der Gesellschaft" auf den Weg gebracht habe, (so etwa Gerd Koenen, der es doch viel besser wissen müsste, in der FR). Die linke Folklore will es, dass die narzißtische Selbstbespiegelung der spätachtundsechziger "Kommunen" als "Befreiung" erlebt wird, der spontaneistische Aktionismus der siebziger Jahre als (wenn auch gescheiterte) Feier des "Lustprinzips" erscheint (Buselmeier in der FAZ) und - Höhepunkt dieser retrospektiven Totalvernebelung - Doktrinäre und Einpeitscher wie "Joscha" Schmierer (der diesen Kosenamen in der stalinistischen Ära der mittsiebziger Jahre nie hätte durchgehen lassen) sich zum Wegbereiter einer "streitbaren Demokratie" stilisieren, die "Individualität" und "die Würde der Person" angeblich "auch damals" geschätzt haben.
Die "Demokratie" im Interieur des sogenannten "demokratischen Zentralismus", über den Leute wie Schmierer über ein Jahrzehnt wachten, erschöpfte sich meiner Erinnerung nach allerdings darin, Einsicht in die "politische Notwendigkeit" vorzugeben. "Politisch notwendig" mochte man es damals noch ansehen, allsonntäglich zur "Landagitation" abkommandiert zu werden; schwerer tat man sich schon mit den dauerhaften Sammelverschickungen, sei es aufs Land oder in irgend einen Betrieb, der nur auf unsere "Aufbauarbeit" wartete. Hatten Genossen, selten genug, qua Persönlichkeit oder Geschick tatsächlich einmal Rückhalt in der Belegschaft, konnte man sicher sein, dass einen ein "demokratisch-zentralistisch" ausgebrüteter "Forderungskatalog" isolierte.
Und wo blieb "damals" die "Individualität", wenn die "politische Notwendigkeit" das sektiererische "coming out" erforderte und Berufsverbote, Arbeitslosigkeit und Existenzkrisen nach sich zog? Wo die "Würde der Person", wenn der Druck von oben nach innen ging und man sich hinter vorgehaltener Hand berichtete, Genosse XY schlage seine Frau, die nun ins Frauenhaus gezogen sei? Wo die Demokratie, wenn widerstrebende Genossen per Beschluss dazu verdonnert wurden, ihre wenigen Habseligkeiten in besetzten Häusern zu lassen, obwohl der "Kampf" doch "militärisch verloren" gegeben war und - auch das sei nicht vergessen! - Bereitschaftspolizisten in den siebziger Jahren wenig Respekt vor Menschen und Dingen zeigten?
"Wer in den Sumpf gehen will, soll gehen, wir halten ihn nicht!", lautete ein geflügeltes Wort des Großen Vorsitzenden, als sich die eigenen Reihen auflösten in den spontanen Nahkampf mit den "Bullenschweinen" oder den organisierten mit dem "Bullenstaat". Manche, vor allem viele Frauen, sind weder in den "Sumpf" gegangen, noch haben sie umstandslos die vom "imperialistischen Staat" vorgeworfene Kreide gefressen, sondern sich an die Kernerarbeit nachpubertärer männlicher Erziehung gemacht. Wahrscheinlich war das ein Fehler. Nicht mit Tomaten, sondern mit Steinen hätten sie die Genossen vorantreiben sollen auf den Weg in die "Selbstzivilierung", die im Kosovo oder wohin heute sonst noch die "Verschickungen" der alten-neuen Planstäbler gehen, allerdings nicht zu erwarten ist.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.