Wenn es stimmt, dass der Diskurs ein Gradmesser gesellschaftlicher Befindlichkeit ist und die Frequenz der dabei in Einsatz gebrachten Begriffe etwas über den Zustand des Gemeinten aussagt, dann muss es um die Gattung ziemlich verheerend bestellt sein. Die rhetorische Bemühung um die "Menschenwürde" im Vorfeld und anlässlich der großen Gentech-Debatte im Deutschen Bundestag am Donnerstag vergangener Woche entwickelte einen Sog, dem sich selbst hartgesottene Freiliberale wie Wolfgang Gerhardt kaum entziehen konnten und ihre Devotion vor der Forschungslobby verbanden mit einer Huldigung an das "Leben".
So konnte man streckenweise den Eindruck gewinnen, dass das Hohe Haus sich hinterrücks in eine Gesellschaft zum Schutz bedrohter Tierwelt oder Völker verwandl
r verwandle, flankiert von jenem neuen überfraktionellen "Bündnis Menschenwürde", das - gewiss ganz unverdächtig dunkler Absichten - sich zum Bevollmächtigten der gefährdeten Spezies Mensch erklärt. Als "letztes diskursives Zucken" vor deren Ableben kommentierte denn auch eine bissige Beobachterin den Redemarathon, der sich in therapeutischer Manier beständig selbst als "konstruktiv" und "offen" lobte - als sei in der Rede selbst schon "Erlösung" zu finden.Dass die Aussprache im Deutschen Bundestag ausgerechnet auf den 40. Geburtstag der "Pille" fiel, war von den politischen Regisseuren gewiss nicht intendiert, darf aber als ironische Fußnote angemerkt werden. Denn welche Effekte die kleinen bunten Liebeskügelchen auch hatten - vom aufklärerischen Nutzen über das arbeitsmarktpolitische Kalkül bis hin zum big business für die Hersteller -, sie sorgten unwiderruflich dafür, das "biologische Schicksal" der Frauen zu überlisten und Familienplanung - auch wenn Verhütung keine Erfindung der Pharmaindustrie ist - für weite Teile der Bevölkerung auf ein technisch handhabbares Problem zu reduzieren.Ironisch ist dieser nicht konzedierte Zusammenfall der Ereignisse, weil mit der Pille etwas in die Welt kam, was seit den ausgehenden sechziger Jahren unter weiblicher Autonomie und Selbstbestimmungsrecht firmiert. Die Freiheit, sich generell gegen Kinder oder zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein Kind entscheiden zu können, hat die modernen Gesellschaften in den letzten dreißig Jahren wahrscheinlich mehr verändert als die Erfindung der Atombombe.Doch war die neu erworbene Autonomie teuer erkauft: Nicht nur hat die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung zumindest die gedankliche Voraussetzung geschaffen, von dem aus die moderne Reproduktionstechnologie - die Vorstellung und Möglichkeit, menschliches Leben in vitro zu (er)zeugen - ihren Ausgang nahm; andererseits hat der aufgenötigte aufgeschobene Kinderwunsch paradoxerweise eben einen großen Teil der Klientel geschaffen, die heutzutage die Wartezimmer der Repro-mediziner füllt und auf "letzte Hilfe" hofft. Doch wo einmal der Wunsch nach Selbstbestimmung handlungsleitend gewesen sein mag, sind die Betroffenen nun einem technischen Procedere ausgeliefert, das sie kaum kontrollieren und beeinflussen können.Wenn nun wieder einmal das Selbstbestimmungsrecht in Anschlag gebracht wird, um etwa die Präimplantationsdiagnostik (PID) gesellschaftsfähig zu machen, ist also Vorsicht angebracht. "Der selbstbestimmte Mensch", war kürzlich in einem Feuilletonbeitrag zu lesen, "hat nicht nur die Berechtigung, sondern auch die Verpflichtung, sein Schicksal eigenverantwortlich mitzugestalten." Die Formulierung ist aufschlussreich: Wem oder was gegenüber könnte diese "Verpflichtung" bestehen? Für wen bedeutet es eine Zumutung, sich dieser Verpflichtung zu entziehen? Sich selbst oder den Angehörigen gegenüber, der (kostenpflichtigen) Gesellschaft ganz allgemein? Oder etwa dem noch ungeborenen Kind, dem es - im Falle eines negativen Befundes durch die PID - nicht zugemutet werden kann zu leben?Die betroffenen Paare - und es ist, nebenbei bemerkt, ein Skandal, dass bislang nur verheiratete Heteros Zugang zu einer in-vitro-Fertilisation haben - sind in der konkreten Situation überfordert: Nicht nur übersehen sie das Problem nur bedingt, fühlen sich alleine gelassen, haben keine Erfahrung mit Behinderten, sie stehen auch noch unter "Vermeidungsdruck" durch ihre Umgebung. Ihre Entscheidungen stützen sich auf das Expertenwissen Dritter, von dem viele behaupten, dass es eher "ver-ratlose", als tatsächliche Entscheidungskriterien anzubieten imstande wäre. Die statistische Wahrscheinlichkeit, der bedenkliche diagnostische Befund sind medizinisch-wissenschaftliche Konstrukte, mit denen sich in der Erfahrungswelt wenig anfangen lässt.Und wer will allen Ernstes ein Elternpaar dazu bewegen, ein behindertes Kind aufzuziehen, wenn dies abwendbar scheint und im öffentlichen Diskurs gleichzeitig über Embryonen als Forschungsmaterial verhandelt wird? Dies als überzogene elterliche Anspruchshaltungen zu diffamieren geht ebenso am Problem vorbei, wie die elterliche Freiheit der Wahl absolut zu setzen. Mit der Verfügung über das Leben geht eine Ohnmacht einher, in der das selbstverständliche Maß für das Richtige und Gute verloren gegangen ist und zur fallweisen Abwägung zwischen zwei Übeln wird. Es ist sicher kein Zufall, dass die Redner und Rednerinnen im Bundestag in ihrer Argumentationsnot immer auf den Einzelfall auswichen, als ob sich von dort eine gesellschaftsübergreifende Ethik herleiten ließe.In dieser Situation behilft sich die aufgeklärte Gesellschaft mit Beratung durch Experten, die Geländer und Wegweiser durch das schwierige Gelände der Lebensbewältigung bieten. Von diesen Lebenshilfen aller Art lebt nicht nur der öffentlich subventionierte oder privat finanzierte Therapiemarkt, sondern auch Politiker neigen zunehmend dazu, ihre Entscheidungen von "Expertenmeinungen", zu denen neuerdings sogar Bundesverfassungsgerichtsurteile zählen, abhängig zu machen. Politikberatung ist ein legitimes Geschäft, so lange über nachhaltiges Wirtschaften oder den Arbeitsmarkt debattiert wird. In Fragen auf Leben und Tod, wie sie der sich an diesem Freitag zu konstituierende Nationale Ethikrat zu entscheiden hat, ist das problematischer: Das Gremium gerät in den Verdacht, zum profanen Nachfolger der vatikanischen Kongregation zu werden, wenn es seine Aufgabe tatsächlich Ernst nehmen würde; oder aber, wie kürzlich Norbert Bolz anmerkte, zum affirmativ agierenden Spielball der Politik, die ihrerseits mit "Gefälligkeitswissenschaft" versorgt wird.Dass im Falle der sensiblen Repro-Medizin der interessierte Dienstleister und die Beratungsinstanz derzeit meist zusammenfallen, verbindet sie bemerkenswerter Weise mit dem Ethikrat: Viele der prominenten Namen stehen für eine Forschungslobby, die einen unbegrenzten Heilungsauftrag behauptet, um begrenzt Tabus zu brechen. Das wurde bereits im Vorfeld der Berufungen kritisiert und nur notdürftig durch die hastige Kooption einiger "BedenkenträgerInnen" verharmlost.Wie man sich allerdings realiter die Arbeit des Kanzler-Rates vorzustellen hat, wurde kürzlich in der Süddeutschen Zeitung deutlich, die mit dem Rechtsphilosophen Reinhard Merkel das berüchtigte Szenario abfragte, was in einem brennenden Labor zuerst zu retten sei, ein bewusstloser Säugling oder zehn am Vortag gezeugte in-vitro-Embryonen. Dass sich mindestens die Hälfte der befragten künftigen Ethikratmitglieder ohne zu zögern für die Rettung des Säuglings entschieden und nur gelegentlich die gesamte Fragestellung als irreführend abgewiesen wurde, ist ein Beleg für den oben genannten Versuch, eine gültige Ethik an Fallbeispielen - in diesem Fall zumal eine Notfallsituation - deklinieren und von daher ein abgestuftes Lebensrecht ableiten zu wollen (wobei auffällt, dass vor allem Frauen, wenn bei weitem auch nicht alle, die Zumutung dieser Frage betonten).Im Unterschied zum politisch-ethischen Beratungsgeschäft geht es bei der genetischen Beratung - sei es in der PND oder PID - tatsächlich um die Einschätzung konkreter Situationen und Entscheidungshilfen, von denen sich die Betroffenen Entlastung versprechen. Entscheidungsmaxime erwartet allerdings auch die Politik, deren Vertreter der "Überlastungsdruck" durch die Aufhebung des Fraktionszwangs am Donnerstag deutlich anzumerken war.Doch einmal davon abgesehen, dass ein reichlich zufällig zusammengesetzter Ethikrat mitnichten die Autorität einer vatikanischen Versammlung beanspruchen kann, die darüber hinaus von nichtirdischen Instanzen legitimiert scheint, darf man fragen, wer eigentlich die sogenannten Experten entlastet, sollte sich ihr Rat als Irrtum oder, wie in den anvisierten Fragen, gar als tödlich erweisen? Der berühmte Warnock-Bericht, benannt nach der Vorsitzenden der britischen Regierungskommission, die über die Forschung an Embryonen zu urteilen hatte, ist ein prominentes Beispiel für diese Art von Politikberatung. Obgleich Mary Warnock das Lebensrecht von Zellen durchaus sensibel und abwägend beurteilte, war dieser Bericht ein wesentlicher Ausgangspunkt dafür, dass sich in Großbritannien die verbrauchende Embryonenforschung und das umstrittene therapeutische Klonen durchsetzen konnten. Andererseits sollte der politische Einfluss des an der Berlin-Brandenburgischen Akademie angesiedelten Hohen Rates nicht überschätzt werden. Die Hemdsärmeligkeit, mit der sich der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement dieser Tage über die "Bedenkenträger" hinwegsetzte und wider alle Einwände die Einfuhr embryonaler Stammzellen aus Israel zu Forschungszwecken forciert, erinnert ein wenig an jene ausgestorben geglaubte Fraktion in der SPD, die einst Argumente mit Dachlatten ersetzte.Um dem aufgezeigten Problem der Einzelfallbetrachtung zu entkommen und gleichzeitig die problematische Bestimmung des Lebensbeginns, die derzeit die Debatte um den § 218 neu entfacht, zu umgehen, hat die Politologin Kathrin Braun kürzlich vorgeschlagen, den Kant´schen Imperativ neu zu denken in der Weise, dass nicht die Würde bereits existierender oder künftiger Embryonen im Mittelpunkt der Handlungsmaxime stehen sollte, sondern die Gattung selbst. Aus dieser Sicht müssten sowohl PID als auch embryonale Stammzellenforschung verworfen werden, weil sie als Menschenrechtsverletzung einzustufen sei. Indessen ist es gerade die Gattung, die, zum praktischen Versuchsfeld erkoren, auf der Probe steht, das genuin Menschliche - das Unteilbare - hinter sich zu lassen. Was nach dem Individuum kommt, das gleichzeitig seine Diktatur in nie gekannter Form entfaltet, ist noch kaum abzusehen. Beunruhigend ist, dass die schwächsten Teile derzeit unter Artenschutz gestellt werden müssen.
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