Unanständig

Kommentar Krankenkassenbeiträge und Vorstandsgehälter

So viel Gesundheit war noch nie: Die Malocher beglückten Arbeitgeber und Versicherungsträger im vergangenen Jahr mit dem niedrigsten Krankenstand seit der Wiedervereinigung und sorgten für einen Rückgang der Krankengeld-Leistungen um 8,5 Prozent. So gesehen müssten wir nun mit einer Gesundschrumpfungsprämie belobigt werden. Die könnte finanziert werden aus den über vier Milliarden Euro Überschuss, den die Gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr einfuhren, weil unsereins löhnt ohne Ende: Für Pillen, Krankenfahrten, Physiotherapie, Brillen und so weiter. Und für Krankenhausaufenthalte sogar zehn Euro pro Tag, die sogenannte "Verpflegungsersparnis". Wäre interessant, wie sich das nach Hartz IV berechnet, denn ein ALG-II-Bezieher kommt, zieht man Kleidung und andere notwendige Anschaffungen ab, höchstens auf fünf Euro pro Tag.

Also, findet die Gesundheitsministerin, dass die Kassen den Versicherten einen Teil vom Riesengewinn abtreten könnten. Denn dass die für Juli gesetzlich vorgesehene Senkung der Beiträge von 0,9 Prozent Beschiss ist, hat sich mittlerweile auch bei den "kleinen Leuten" herumgesprochen: Die Unternehmen sparen 0,45 Prozent, die nun zusätzlich von den Versicherten aufgebracht werden müssen, wenn sie künftig Krankengeld beziehen wollen. Im Endeffekt gibt es also nicht die versprochene Beitragssenkung, sondern eine dicke Erhöhung, ganz abgesehen davon, dass Kinderlose nun auch für die Pflegekasse tiefer in die Tasche greifen müssen.

Kräftig erhöht haben einige Kassen auch die Bezüge ihrer Vorstände. Belohnt wurden nicht etwa Einsparungen in den eigenen Häusern - die Verwaltungskosten blieben konstant hoch -, sondern der Umstand, dass sie ihren Mitgliedern so viel Geld abgetrotzt haben. "Bonuszahlung" nennt sich das und ist geeignet, den Volkszorn so recht zu entzünden. Bei Gehältern von 100.000 bis 200.000 Euro pro Kopf und Jahr fragt sich der ALG-II-Bezieher, wie lange er für einen Stundeneuro arbeiten müsste, um in die Nähe solcher Summen zu kommen. Richtig gerechnet: Seine Lebenszeit würde wahrscheinlich gar nicht mehr reichen.

Die nun verbreiteten Steckbriefe haben Namen und Adressen. Sie stehen für die Republik der Unanständigen, der Raffer und Schmarotzer. Da hat es dann der Populismus leicht mit dem Haudrauf. Als ob die Unanständigkeit nicht darin bestünde, dass das Volk immer gesünder würde und trotzdem für seine Gesundheit immer mehr bezahlen müsste. Als ob diese geheimnisvolle Gesundung nicht einem erpresserischen Arbeitsmarkt geschuldet wäre. Und die Politik nicht vorexerzierte, wie man Lahme und Kinder noch arbeitsfähig schreibt. Oder eben den Alten vorschlüge, "den Löffel abzugeben". Die Absahnermentalität in den Vorstandsetagen ist nur der unanständige Effekt einer durch und durch unanständigen Sozialpolitik.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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