Unter Null

Berliner Abende In den frühen sechziger Jahren, als Kühlschränke noch nicht zur standardmäßigen Haushaltsausstattung gehörten und einem die Margarine an die Sonne ...

In den frühen sechziger Jahren, als Kühlschränke noch nicht zur standardmäßigen Haushaltsausstattung gehörten und einem die Margarine an die Sonne verloren ging, sah man im Hochsommer öfter Leute - vorab Frauen - mit Eimern voller Stangeneis durch die Straßen gehen. Das war kein sonderlich überraschender Anblick, denn die damals noch in jeder Nachbarschaft existierenden Brauereien stellten das kühle Nass für wenige Pfennige zur Verfügung. Begleitete man als Kind diese eisige Expedition, war das ein köstliches Vergnügen, denn nicht nur konnte man sich Hände und Füße daran kühlen, sondern von den großen Blöcken ließen sich kleine Teilchen brechen, die man, mit Brausepulver oder Sirup versetzt, von einer Backe in die andere schob. Kein Zahnschmerz war so süß, keine Abreibung jemals mehr so schauderhaft schön wie die an diesem Eiswunder trainierte Abhärtung.

Eine Kälteanbeterin ist aus mir deshalb nicht geworden, schon deshalb nicht, weil mich das Leben lehrte, die männlich-mentalen Eiszeiten zu fürchten. Dennoch hat das Eis seither eine eigene Faszination für mich entwickelt: Zuerst an den heimischen Weihern und später während der seltenen Berliner Winter, in denen sich das Feuchtbiotop in eine Fläche glitzernder Firniss verwandelt. Gelegentlich zwischen den Jahren (und - wie in diesem Jahr - ganz selten schon davor) erfasst das in westlicheren Breiten völlig unbekannte winterliche Ost-Hoch dann die Stadt, spinnt sich mit siedenden Nadeln in die Haut von Mensch und Natur, treibt in fleischliche Fasern und geologische Tiefen. Reduzierte Reflexe allenthalben und kräfteschonender Stillstand. Nur parlamentarische Debattierstuben, die da Eisblumen zur politischen Blüte bringen wollen.

Huiii ... schwirrt ein Ding über die blitzende Eisfläche. Fünfzig Meter voneinander entfernt werfen zwei Jugendliche einen Ast hin und her und treiben eine hechelnd-jaulende Töle an den Rand des Wahnsinns: Immer dann, wenn er seine spikelose Pfote ins Eis getrieben und den schlitternden Schub abgefangen hat, ist das Objekt der Begehrlichkeit schon wieder weg. Irrsinnig vor Glück treibt es das Tier wieder zurück, hin und her, in endloser Spirale und voller Spiellust. In genannten Stuben haben solche Spiele fatalere Folgen.

Meine Schlittschuhe sind zu Hause geblieben, dieses eine Mal, um meinen risikoscheuen, überall Untiefen und Gefahr witternden Begleiter zu stützen. Also traben wir - schlierend, glitternd, schlusernd und wie es ansonsten lautmalerisch klingen mag - über´n Schlachtensee und fühlen uns wie ein älteres Paar, das vors Standesamt zitiert werden soll: Immer kurz vor dem Sprint die Handbremse ziehend. In der heftig ostwindigen Brise, die den Schneefirn rücksichtslos übers Eis und in die Krägen treibt, schweben die Läufer. Elegante Anmut oder plumpe Vorstellung ist hier kein Thema, und selbst, wenn es einen schmerzhaft aufs Steißbein setzt, ist blau-überwölbter strahlender Blick. Die Eismaschine bürgt für wunschloses Glück. Ausgerechnet der Eissport hat die Kür über die Pflicht erhoben.

Bei sieben Grad unter Null und schon gegen 15 Uhr fliehender Sonne ist der Tanz auf dem Eis allerdings nur zeitlich begrenzt zu empfehlen, selbst wenn aufsteigende Glückshormone das himmlische Blau mit dem der Lippen verwechseln. So mag es dem Eisläufer gegangen sein, der am Abend unter der Eisdecke des Breilingsees gefunden wurde. Im nahegelegenen Café lernen wir eine neue Form der kollektiven Ich-AG kennen: Die im Minutentakt absolvierten Fehlleistungen werden im Duktus des großen "Wir" entschuldigt. Die Mikrowelle hat "uns" verlassen, so dass statt feiner Schokolade klumpiges Kaba serviert werden muss, das Ei im Glas ist "uns" leider etwas aus der Form geraten, was unseren Tischnachbarn zu Vorträgen über "schlunzige Eier" animiert, und völlig dunkel bleibt, warum der vor der Tür take-away angebotene Glühwein 20 Cent teurer ist als der im heimelig-warmen Lokal offerierte. Wahrscheinlich ein Tribut an die Kälte.

In der Sonntagszeitung werden in der schaurigen Fortsetzungsgeschichte des deutschen Kannibalismus Fragen geeigneter Kühltechniken diskutiert. Die Eisindustrie gilt als zivilisatorische Leistung, und die künstliche Kälte hat in den letzten Jahrzehnten ganz neue Anwendungsweisen erfahren: Gesammelt werden mittlerweise Samen, Stammzellen, Embryonen und tiefgefrorene Leiber aller Art. Warum nicht also deftige Schnitzel aus Menschenfleisch? Aber bitte cool bleiben! Nach dem zweiten Satz der Thermodynamik kann Wärme bekanntlich nicht von alleine von einem wärmeren auf einen kälteren Körper übergehen. In den frostigen Zeiten sollte uns dies trösten.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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