Man säße ja gerne in ihren Köpfen. Möchte wissen, was sie regelmäßig auf die Straße treibt, um gegen die Corona-Maßnahmen zu protestieren, angesichts entgleisender Infektionszahlen und des Risikos, sich während solcher weitgehend maskenfreien Events anzustecken. Warum sie entgegen jeder Evidenz und geballter Wissenschaftsexpertise davon überzeugt sind, dass Corona eine Erfindung des Staats ist, um die Bevölkerung zu drangsalieren und zu entrechten. Vor zwei Wochen bin ich in Freiburg zufällig in eine solche Demonstration mit offen zur Schau getragener rechter Flanke geraten. Es war wie eine Zeitreise in die 1970er Jahre, denn wären nicht die unappetitlichen Parolen gewesen, wirkte der von vielen jungen Leuten unterstützt
tzte Aufmarsch oberflächlich wie einer der uns damals beflügelnden Proteste.Und tatsächlich wollen die in Basel lehrenden Soziologen Nadine Frey und Oliver Nachtwey nun die linksalternativen Wurzeln der vor allem im Südwesten virulenten Querdenker-Bewegung aufgespürt haben. In einer nicht repräsentativen Befragung unter deren Unterstützern stellten sie fest, dass 30 Prozent noch vor wenigen Jahren den Grünen zuneigten und sich heute viele im esoterischen und anthroposophischen Milieu bewegen. Die dort traditionell ausgeprägte kritische Distanz zum Staat, das ganzheitliche Verhältnis zur Natur und ihr Selbstverwirklichungsanspruch bildeten das ideologische Fundament, das sie als heroische Widerstandskämpfer:innen auftreten ließe. Meist gut gebildet, gerierten sie sich als der Mainstream-Wissenschaft überlegene Expert:innen. Dieser Geist strahlt auch in die Schweiz und nach Österreich aus, immerhin war der Vordenker der Anthroposophie, Rudolf Steiner, ein Österreicher, der in der Schweiz, in Dornach, wirkte.Nun ist die Frage, warum die Impfquote gerade im deutschsprachigen Raum so niedrig ist, durchaus berechtigt, auch wenn die Unterschiede etwa zu Schweden gar nicht so beträchtlich sind. Die starke föderale Prägung der drei Länder und die Abwehr gegenüber der Zentralgewalt mögen dabei eine Rolle spielen. Aber kann die im linken Milieu kultivierte Gesinnungsgemeinschaft, die sich als Ausläufer der 68er-Bewegung ausbildete und auf „authentisches“ Leben abzielte, tatsächlich als Erklärungsmuster herangezogen werden für den „Egoismus“ heutiger Impfverweigerer, für deren jedem rationalen Argument unzugängliche Denkmuster und ihre Hybris?Bei genauerer Hinsicht scheint das wenig plausibel. Denn die sich Ende der siebziger Jahre ausbildenden alternativen Strömungen zeichneten sich durch einen starken Gemeinschaftssinn und eine hohe Solidaritätsbereitschaft aus, gerade im und für das Kollektiv, das sehr international gedacht wurde. Auch waren sie alles andere als wissenschaftsfeindlich, die von ihnen angebotenen „Alternativen“ wiesen vielmehr den Weg in die heutige ökologische Transformationsgesellschaft.Die beiden Wissenschaftler – das soll hier unterstrichen werden – stehen außer Verdacht, diese Bewegungen denunzieren zu wollen. Aber die in ihrer Studie erhobenen Befunde sind geeignet, mit gezielten Schuldzuweisungen ein solches Bashing zu befördern. Es verlängert die regelmäßig zu jedem Jahrestag von 1968 von interessierter Seite erhobenen Vorwürfe hinsichtlich „Egozentrik, Faulheit und Mittelmaß“ (Kai Diekmann zum 40. Jubiläum) oder dem „schrankenlosen antiautoritären Selbstfindungsgetue enthemmter selbstverliebter Konsumkinder“ (Alexander Grau zum 50. Jahrestag). Das Personal von 1968 musste herhalten für Bindungsarmut, Familienzerfall, Kindermangel, Erziehungsnotstand und sogar den Aufstieg der Neuen Rechten.Aber hier wie da werden Formen mit Inhalten verwechselt, und dass es bei den Formen lebendige Austauscheffekte gibt, steht außer Frage. Doch das linksalternative Protestmilieu hatte mehr zu bieten als verschwurbelte Naturliebe und Esoterik. Die Querdenker-Fraktion im Süden und Corona-Leugner im Osten, die fest in der AfD wurzeln, zeigen erheblich größere Deckungsfläche. Und nicht jede Staatsskepsis geht in ihnen auf.