Vergessen wird schnell

Frauen gegen Atomkraft Ein Erinnerungsband zieht Bilanz und blickt voraus

Für diejenigen, die das Ereignis bewusst erlebt haben, ist es kaum vorstellbar: Doch 20 Jahre nach Tschernobyl gibt es mittlerweile eine erwachsene Generation, für die sich mit diesem Datum nichts Persönliches mehr verbindet. Die Jüngeren erinnern sich nicht an die Lähmung, an die Verzweifung und die Wut; nicht an radioaktiv verstrahlte Muttermilch oder Lebensmittel, das Becquerel-Lotto oder die Furcht vor schlichtem Regen; und auch nicht an die vielfältigen Aktivitäten, die sich überall im Land entfalteten, als der erste Schock einmal überwunden war und der Wille zum Handeln wieder erwachte.

Es waren vorab die Frauen, die damals aktiv wurden. Denn sie mussten ein strahlendes Frühjahr lang ihre Kinder zuhause halten und vor dem verseuchten Sandkasten schützen, sie mit Molke statt Frischmilch versorgen und Tiefkühlgemüse horten. Viele, die bislang wenig mit Politik am Hut hatten, schlossen sich zusammen. Als Mütter protestierten sie gegen Atomkraft und gegen die offizielle Desinformationspolitik, erzwangen Messungen, forderten Trockenmilch. Und solidarisierten sich mit den Frauen und Kindern in den betroffenen Gebieten um den Reaktor, organisierten Unterstützung für sie.

Diesen Frauen haben Ulrike Röhr und ihre Mitarbeiterinnen der Frankfurter Leitstelle Geschlechtergerechtigkeit und Nachhaltigkeit (genanet) mit bescheidenen Mitteln ein Denkmal gesetzt mit einem Buch, das nicht nur an die vielfältigen Aktivitäten von damals erinnern soll, sondern auch Bilanz zieht: Was ist aus den zahllosen regionalen Gruppen "Mütter gegen Atomkraft" geworden? Konnten sie etwas verändern? Auf welche Weise hat Tschernobyl das Leben dieser Frauen verändert? Welche politischen und persönlichen Konsequenzen haben sie daraus gezogen?

Die versammelten Erfahrungsberichte und Dokumente rücken die Zeit noch einmal ganz nahe. Die Frauen erzählen von ihrer Verwirrung, weil niemand genau wusste, was eigentlich passiert war, was es bedeutete und den ersten panischen Reaktionen. Gemessen an den dramatischen Schicksalen von Jelena B., die damals in Pripjat lebte, oder Natalia Manzurova, eine der vielen Liquidatorinnen in Tschernobyl, mögen die damaligen Besorgnisse deutscher oder österreichischer Mütter überzogen wirken. Doch egal, wo die Frauen lebten und was sie erlebten: Sie alle hatten offenbar das Gefühl, von der Politik hintergangen worden zu sein und dem etwas entgegensetzen zu wollen.

Vor diesem Hintergrund war es kein Zufall, dass sich die Frauenbewegung nach Tschernobyl deutlich differenzierte. Denn dass sich Frauen in ihrer Rolle als Mütter mit besonders "heißem Draht zum Leben" in die Politik einzumischen begannen, war all jenen, die jahrelang den Kampf gegen den Biologismus geführt hatten, ein Dorn im Auge. Auch davon erzählt dieser Band. Und von den Versuchen, aus Tschernobyl zu lernen.

Denn die Erfahrung, dass "schnell vergessen wird, wenn die Gefahr nicht mehr konkret ist", wie es eine Aktivistin ausdrückt, machten viele, die sich weiter in der Umweltbewegung engagierten oder ihr Engagement beruflich umzusetzen versuchten. Dieser zweite, nicht-retrospektive Teil des Buches sensibilisiert für die "Mühen der Ebenen", die am nachdrücklichsten in dem nicht geschriebenen Beitrag der Ingenieurin und Technikkritikerin Rosemarie Rübsamen zum Ausdruck kommen. Ihre E-Mail an die Herausgeberin erzählt davon, in welchen Zwängen eine Firmenchefin steckt, die sich in einer männerdominierten Technik- und Wirtschaftswelt bewegt und für erneuerbare Energien streitet. Die aus der Wut geborenen Visionen sind in den Niederungen der Geschäfte angekommen. Keine üble Bilanz, wenn man bedenkt, dass am Anfang Frauen standen, die "nur" Angst um ihre Kinder hatten.

20 Jahre Tschernobyl. Frauen aktiv gegen Atomenergie - wenn aus Wut Visionen werden. Hg. von genanet/Ulrike Röhr. Frankfurt 2006. 195 S.,19,90 EUR


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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