Versaute Chance

§219a Die SPD verpasst erneut eine Gelegenheit, sich für die Rechte von Frauen stark zu machen. Die Betroffenen werden das zu quittieren wissen
Die Abschaffung oder zumindest die Änderung des §219a ist bitter nötig
Die Abschaffung oder zumindest die Änderung des §219a ist bitter nötig

Foto: Christian Ditsch/Imago

Wer den Kotau besichtigen will, den die SPD in der nächsten Legislaturperiode vor der Union zu machen gedenkt, wurde am gestrigen Donnerstag im Parlament mit einem Lehrstück beglückt. Obwohl die Sozialdemokraten einstimmig einen Gesetzesentwurf zur Abschaffung des §219a beschlossen hatten und sich im Parlament eine Mehrheit abgezeichnet hatte, das aus der Nazi-Zeit stammende Werbeverbot für den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu tilgen, setzten sie diesen nicht auf die Tagesordnung mit Rücksicht auf die Union, die nicht willens ist, an dem Strafparagraf zu drehen. Wie oft noch müssen wir das erleben? Wie lange noch wollen wir selbst gutwilligen SPD-Frauen Glauben schenken, wenn sie am Ende doch aus machttaktischen Gründen einknicken? Wir haben doch eine so lange Erfahrung damit!

Es wäre eine einmalige Chance gewesen, zu zeigen, wie Parlament auch unter einer Minderheitsregierung funktionieren kann. Die Frauen hatten darauf gehofft und mit ihnen die Gynäkologinnen, die als Abtreibungsärztinnen am Pranger stehen. Gerade wieder sind in Hessen zwei Verfahren aufgrund §219a anhängig. Wie Kristina Hänel, die im November zu 6000 Euro Geldbuße verurteilt worden war, wirdihnen vorgeworfen, um ihres Vorteils willen Werbung für den Schwangerschaftsabbruch zu machen, indem sie Frauen sachliche Informationen zur Verfügung stellen. Ein Unding, waren sich die Oppositionsparteien mit Ausnahme der AfD einig, selbst die FDP wollte den §219 auf „reißerische Werbung“ beschränken.

Ziel war es, für Ärzte und Ärztinnen, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, Rechtssicherheit zu schaffen und Frauen in entsprechenden Notlagen das Recht auf freie Arztwahl und Information zu garantieren. Das ist ein Grundrecht. Und die Abschaffung oder zumindest die Änderung des §219a ist auch bitter nötig, denn es gibt aufgrund der massiven Angriffe der organisierten Abtreibungsgegner, die hinter den Anzeigen stecken, immer weniger Ärztinnen und Ärzte, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen wollen. Das Kalkül der so genannten Lebensschützer, durch Kriminalisierung abzuschrecken, schien also aufzugehen.

Andererseits formiert sich erstmals seit den neunziger Jahren aber auch wieder eine Bewegung. Das „Bündnis Sexuelle Selbstbestimmung“ stellt am heutigen Tag in Berlin eine Kampagne vor, mit dem Ziel, den §219a aus dem Strafgesetzbuch zu entfernen. Überall in der Republik wird wieder über das Abtreibungsverbot diskutiert. Wie daraus aus dem Nichts eine politische Bewegung werden kann, haben die Polinnen vorgeführt, die einen Angriff auf das Abtreibungsrecht verhinderten.

Doch statt sich ein einziges Mal an die Spitze einer politischen Allianz zu stellen, zaudern die SPD-Frauen. „Wir setzen auf eine Kompromisslösung und Gespräche mit CDU/CSU, FDP, Grünen und Linken“, lässt Eva Högl, mögliche Ministerin im künftigen Kabinett Merkel, wissen. Dabei hat die Union längst klargemacht, dass sie keinerlei Grund sieht, die Frage als Gewissensentscheidung freizugeben. Die SPD hat es wieder einmal versaut. Die Frauen werden das zu quittieren wissen.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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