Nirgendwo konnte man der Banalität des Bösen im Lande so ansichtig werden wie bei „Aktenzeichen XY ... ungelöst“. Nirgendwo kam ein Fernsehermittler seriöser daher – und kaum etwas faszinierte die Zuschauer mehr als die trockene Einführung von Eduard Zimmermann in ein „unvorstellbares“ Verbrechen. Was Hans Rosenthal oder Hans-Joachim Kulenkampff in den sechziger Jahren auf der Spielebene begannen, wurde in Zimmermanns Tele-Fahndung als Ernstfall erprobt: Mitmach-Fernsehen für Jedermann. Die Spielshows heizten die Konkurrenz an, „Aktenzeichen XY“ das Jagdfieber. Mittels Laienspielszenen nachgestellt, brachte die Sendung den Reality-Grusel ins deutsche Fernsehen und via Direktschaltung nach Wien und Zürich Interpol in die deutschen Wohnzimmer. Die Fernseh-Hatz begann unter bereitwilliger Teilnahme der Zuschauer. Dass Zimmermann ein biederes Massenpublikum mit Spitzeldiensten für die Polizei beauftragte, erregte in unterschiedlicher Tonlage den kritischen Rest, der ihn für eine teletaugliche Ausgeburt des Polizeistaats hielt.
Um ermessen zu können, welche realpolitische Bedeutung „Aktenzeichen XY“ damals hatte und zu welchen Reaktionen sie herausforderte, muss man sich den Zeitpunkt vergegenwärtigen. Als die Sendung am 20. Oktober 1967 beim konservativen ZDF an den Start ging, war in Berlin gerade Benno Ohnesorg erschossen worden. Ein Jahr später ging in Frankfurt ein Kaufhaus in Flammen auf, in Berlin kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Polizei. Es ist der Auftakt zur allgemeinen Jagd auch auf die nicht-militante Linke, bei der die Polizei ein denkbar schlechtes Image hat, und die doch gerade herausgefunden zu haben meint, dass der Nazi-Staat auch ein Staat von Denunzianten war. Dass der 1929 geborene Zimmermann diese Schuld kaum mehr auf sich geladen haben konnte und der kleine Gauner und Schwarzmarkthändler „Ede“, der er einmal war, eher der „anderen“ Seite zugehörte, blieb in den groben Wahrnehmungsmustern unbemerkt oder wurde einfach ausgeblendet.
Wer in den siebziger Jahren auf sich hielt, mied Zimmermanns Fahndungssendung – oder ließ sich nicht vor dem Bildschirm erwischen. Wer „Gewalt gegen Sachen“ theoretisch und praktisch rechtfertigte, konnte gegen den Bankräuber wenig haben; und wo es um Kapitalverbrechen wie Mord ging, wusste man die damals aus den Verhältnissen zu erklären, wenn auch nicht zu billigen. Der erfolgreiche Appell an den niederen Jagdinstinkt des Fernsehvolkes war nicht nur bedrohlich für die Linke, er wurde auch als politische Kränkung verstanden.
Heutzutage ist Tele-Fahndung kein Aufreger mehr. Zum einen, weil die Kritiker den Schutz von Leib und Eigentum zu schätzen lernten und begannen, die Kühle gegenüber den Opfern abzulegen. Ob dies eine pädagogische Leistung des Fernsehens war oder eine Frage der Selbsterziehung, sei dahingestellt.
Zum anderen hat das Fernsehen in den letzten 30 Jahren ganz neue Formen des Reality-TV kreiert, von den Pseudo-Psycho-Sitzungen am Nachmittag bis hin zum publikumsüberwachten Containerleben. Dabeisein bedeutet heute mehr, als nur zum Hörer zu greifen; da muss schon der existenzielle Ausnahmezustand simuliert werden.
In der Verbrechensbekämpfung hingegen gilt, wie in vielen anderen Bereichen, das Zauberwort Prävention. Damit wird der Ausspähstaat gerechtfertigt und die Verletzung von Bürgerrechten. Unter dem Motto „nicht wegsehen!“ werden die Bürger in Alarmbereitschaft versetzt. Nicht erst vor dem Bildschirm.
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