Vom Virus getrieben

Corona Eine Impfung wird die Lage nicht unbedingt entschärfen. Wir müssen uns fragen, was ein Leben mit Corona langfristig bedeutet
Ausgabe 48/2020
Was die „Corona-Maßnahmen“ genannten Einschränkungen bislang gebracht haben, ist, nüchtern betrachtet, ein Fiasko
Was die „Corona-Maßnahmen“ genannten Einschränkungen bislang gebracht haben, ist, nüchtern betrachtet, ein Fiasko

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Wenn die Jahresrückblicke verbuchen, was uns 2020 am meisten beschäftigt hat, wird der Spitzenreiter von 2019 – Donald Trump – wohl verdrängt werden vom Corona-Virus, und im Unterschied zu Trump kann man ihm weder Dummheit noch böse Absicht unterstellen. Denn das Virus treiben keine Motive, keine Strategien oder Ziele, es kennt keine Feste oder Freuden, die es dem Menschen verderben könnte, es folgt nur seinem inneren Programm der Replikation.

Weil aber Menschen dazu neigen, Schuldige zu suchen für das, was ihnen widerfährt, müssen diejenigen herhalten, die ihnen das Leben erschweren und die Daseinsfreude vermiesen, und das ist nach Lage der Dinge das politische Personal des Landes. Es entscheidet darüber, ob der Gänsebraten in der Großfamilie oder nur zu fünft gegessen werden darf, ob man auf die Kanaren fliegt oder lieber lautstark auf heimischen Straßen das neue Jahr begrüßt. Dieses Personal, sagt man, bewege sich nur unter der gläsernen Reichstagsglocke, lebe abgehoben und entscheide realitätsfern von den Sorgen und Nöten des Volkes. Wie dem auch sei, eine gute Figur hat es in den letzten Monaten tatsächlich nicht gemacht.

Nun steht der Politik eine Bescherung bevor, auf die sie wohl lieber verzichten würde. Denn was die „Corona-Maßnahmen“ genannten Einschränkungen gebracht haben, ist, nüchtern betrachtet, ein Fiasko. Stabilisierung auf hohem Niveau ist die seit Wochen bemühte Formel, in die die Hilflosigkeit der Entscheidenden eingeschrieben ist. Radikalere Maßnahmen will niemand verantworten, weil sie Großschäden an Wirtschaft oder Demokratie zeitigen würden. Deshalb sitzt die Bevölkerung weiterhin zusammengepfercht in Bussen und Bahnen, um zur Arbeit zu fahren, es werden Schüler massenhaft beschult und alle zusammen in Freizeitisolation verdammt. Das kann den gesunden Menschenverstand beleidigen und nährt die Feuerchen der politischen Brandstifter.

Nun also bis zum 20. Dezember ein weiterer, verschärfter Teil-Lockdown mit Aussicht auf ungewisse Verlängerung, so wollen es die um Einigkeit bemühten Länderfürsten. Das kommt angesichts des Infektionsgeschehens nicht unerwartet, fordert aber den besonders schwachen Gliedern – Gastronomie und Kultur – weitere Opfer ab. Zwischen Weihnachten und Neujahr sind „Corona-Betriebsferien“ angedacht und längere Schulferien, um die erhöhte Ansteckungsgefahr in den feiernden Familien abzufangen. Größere Familienfeste bleiben auch in dieser Zeit tabu, denn es dürfen höchstens zehn Personen, Kinder ausgenommen, zusammentreffen. Ob das Beherbergungsverbot aufgehoben wird, dürfte erst kurzfristig entschieden werden und möglicherweise auf infektionsarme Regionen begrenzt bleiben. Planungssicherheit sieht anders aus. Der angestrebte Böllerverzicht auf belebten Straßen und Plätzen immerhin dürfte nicht überall Trauer auslösen.

Es ist eine große Koalition der Vernunft, die sich in Stellung bringt, weil sie weiß, dass der profilierungsgetriebene Länderschacher den Mitwirkungswillen der Menschen untergräbt. Aber noch immer wirken die Akteure wie Getriebene, die nichts weiter im Geschenksack haben als die Aussicht auf eine Impfung. Die aber wird die Lage nicht unbedingt entschärfen, weil sie trügerische Sicherheit vermittelt. Wir werden mit dem Virus leben müssen. Es ist an der Zeit, sich darüber zu verständigen, was das bedeuten wird – nicht nur ökonomisch.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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