Viele deutsche Ärzte klammern sich an die Unantastbarkeit des Lebens. Doch die ÂMaxime des Lebens ist mitunter alles andere als tugendhaft.« Diese erstaunlichen Sätze finden sich in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung Die Zeit in einem Beitrag über schwergeschädigte Frühgeborene; die Redaktion hält diese Meinung für so bemerkenswert, dass sie sie als Zitat herausstellt. Die beiden Autoren haben recherchiert, dass in französischen Kliniken, denen die deutsche »Skrupulösität« fremd ist, betroffenen Neugeborenen - selbstverständlich mit Zustimmung der Eltern - »starke Beruhigungsmittel« verabreicht werden, um »den Tod indirekt über die Lähmung der Atemwege« herbeizuführen. »Der Todesschein«, heißt es weiter, »vermerkt dann ÂHerzversagenÂ.«
Wenig tugendhaft, sogar »unmoralisch« findet es auch John D. Gearhart, Gynäkologe an der John Hopkins University Baltimore und kommerzieller Zulieferer von Stammzellen in die ganze Welt, wenn sich der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Ernst-Ludwig Winnacker, gegen embryonale Stammzellenforschung ausspricht. Gearharts optimistisches Plädoyer für den »Rohstoff Mensch« - großzügig ausgebreitet auf der gleichen Zeitungsseite - ist symptomatisch für die Art und Weise, wie die spezifisch »deutschen« Bedenken gegen bestimmte biowissenschaftliche Forschungen verharmlost und ausgespielt werden gegen die daraus erwachsenden »Standortnachteile«.
Allerdings löcken nicht nur ausländische Forscher wider den Stachel ethischer Einwände. Als im Frühjahr der Run um die sogenannte »Entzifferung des menschlichen Lebens« in seine vermarktungsstrategisch wichtige mediale Phase trat, hoffte Detlev Ganten, Leiter des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in Berlin-Buch und als Vorsitzender der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren beteiligt am Human Genom Project, dass der internationale Wettlauf um das Gen dazu beitrage, die »deutsche Genforschung von ihren historischen Belastungen zu befreien«.
Ein halbes Jahr später wird gerade das Delbrück-Centrum um so dringlicher von dieser historischen Last eingeholt: Am 14. Oktober wurde in Berlin-Buch das Mahnmal zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasiemaßnahmen eingeweiht; in der gleichen Woche legte die vom Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) berufene unabhängige Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus« einen minutiösen Zwischenbericht über den Beitrag biowissenschaftlicher Forschungen von Kaiser-Wilhelm-Instituten (KWI) an NS-Verbrechen vor. Betroffen sind neben dem KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und dem KWI für Biochemie in Berlin-Dahlem auch die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA/KWI) in München und eben die Vorläufereinrichtung in Buch, das zwischen 1914 und 1919 gegründete KWI für Hirnforschung. Weitere Schwerpunkte des auf fünf Jahre angelegten Forschungsprojektes sind die Rüstungsforschung und die »Ost- und Lebensraumforschung«, die im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Eroberungspolitik betrieben wurden und die Autarkiepläne der Nazis wissenschaftlich fundierten und praktisch umsetzten.
Skandalisiert wurde die Vor-, Zu- und Mitarbeit deutscher Mediziner und Biowissenschaftler für den NS-Staat vereinzelt schon in den sechziger Jahren, etwa durch Klaus Dörner, und verstärkt seit den achtziger Jahren. Die Max-Planck-Gesellschaft als institutionelle Nachfolgerin der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft selbst, das räumte auch der Kommissionsvorsitzende, der Historiker Reinhard Rürup, ein, hat sich indessen reichlich Zeit gelassen mit der Erforschung ihrer wenig reputierlichen Vorgeschichte - »nicht mehr oder weniger allerdings als andere Firmen auch«, wie Rürup auf der Pressekonferenz lakonisch bemerkte.
Zurückzuführen ist diese Vergangenheitsscheu zum einen auf die personellen Kontinuitäten nach 1945. So war der Hormonforscher, Nobelpreisträger und spätere Ehrenpräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Adolf Butenandt, der das Institut für Biochemie von 1936 bis 1960 leitete, nicht nur über militärstrategische und zivile Menschenversuche an seinem Institut zumindest informiert; nach dem Krieg setzte sich Butenandt auch für die Rehabilitation hoch belasteter Wissenschaftskollegen wie Otmar v. Verschuer ein, der in den fünfziger Jahren auf den ersten deutschen Lehrstuhl für Humangenetik berufen wurde. Verschuer, so der Medizinhistoriker Hans-Peter Kröner in einer gleichzeitig mit dem Zwischenbericht herausgegebenen »Bestandsaufnahme«, spielte eine besondere Rolle, weil er nach dem Krieg »lautstark seinen Anspruch auf eine Führungsrolle in der deutschen Humangenetik anmeldete«.
Bekannt war die »Verstrickung« vieler leitender und teilweise international anerkannter KWI-Wissenschaftler in die NS-Forschung bereits 1945: Im Falle des Pathologen Julius Hallervorden beispielsweise, der als Leiter der Histopathologischen Abteilung am KWI für Hirnforschung mindestens 295 Gehirne von Menschen, die der »Euthanasie« zum Opfer fielen, für seine Experimente missbrauchte, oder von Fritz Lenz, ehemals Leiter der Abteilung Eugenik am KWI für Anthropologie und Ordinarius für Rassenhygiene, der nach dem Krieg als Extraordinarius für menschliche Erblehre in Göttingen avancierte.
Dabei unterschlägt der unscharfe Begriff »Verstrickung«, darauf insistiert der von Forschungsleiterin Carola Sachse und Benoit Massin vorgelegte Zwischenbericht nachdrücklich, das Ausmaß der tatsächlichen Beteiligung einzelner Protagonisten. Der Humangenetiker v. Verschuer beispielsweise gehörte mit Ernst Rüdin und Fritz Lenz zu jenen Wissenschaftlern, die die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungspolitik theoretisch absicherten und den entsprechenden Ministerien direkt oder indirekt - etwa bei der Indikationsstellung von Zwangssterilisationen oder Kastrationen sogenannter »Minderwertiger« - als Sachverständige und Gutachter zuarbeiteten. Etwa 95 Prozent der über 400.000 durchgeführten Zwangssterilisationen wurden aufgrund einer neuropsychiatrischen Begutachtung durchgeführt. Inwieweit Rüdin, seit 1931 Leiter der DFA/KWI für Psychiatrie in München, selbst an der politisch-administrativen Vorbereitung der - übrigens durch kein nationalsozialistisches Gesetz gedeckten - sogenannten »T 4-Aktion« (benannt nach dem Sitz der »Euthanasie«-Zentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4) beteiligt war, ist noch nicht eindeutig geklärt; seine »Unterlassungssünden« als ärztlicher Standespolitiker, der nicht gegen die Aktion intervenierte, sind unumstritten.
Ebenso unwiderlegbar ist die Zusammenarbeit v. Verschuers mit dem SS-Arzt Josef Mengele: Aus Auschwitz stammten die Blutseren, an denen seine Mitarbeiter experimentierten, und auch die Augenpaare für die berüchtigte »Zwillingsforschung«; zumindest v. Verschuer, aber wahrscheinlich auch die unmittelbar beteiligten Forscher (und Forscherinnen wie Karin Magnussen) wussten über die Herkunft ihres »Materials« Bescheid. Der ungarische Pathologe Miklos Nyiszli, selbst in Auschwitz inhaftiert und Mengeles Gehilfe, erinnert sich, die »wissenschaftlich interessanten Leichenteile« asserviert und als Eilpaket nach Berlin-Dahlem geschickt zu haben, mit dem Vermerk »kriegswichtiger Inhalt«. Das Institut soll Mengele regelmäßig überschwänglich gedankt haben.
Neben der Aufarbeitung der verzweigten Institutionsgeschichte - aufschlussreich für den inneren Zusammenhang von Krankenmord und Hirnforschung ist die Verzahnung des KWI für Hirnforschung mit der psychiatrischen Landesanstalt Brandenburg-Görden und ihrer »Kinderfachabteilung«, die bei der »T 4-Aktion« als »Zwischenanstalt« fungierte und für den Neuropathologen Hallervorden die »interessanten Fälle« (sprich: Gehirne) selektierte - bemühen sich die Forscher des Projekts auch darum, innerwissenschaftliche Anknüpfungsstellen und Kontinuitäten freizulegen.
Hans-Walter Schmuhl kann in seiner erhellenden Studie über das KWI für Hirnforschung nachweisen, dass das »eugenische Paradigma« bereits vor 1933 mit der Forschungstätigkeit des Instituts kompatibel war; doch das Ehepaar Vogt, das der Einrichtung bis 1937 kommissarisch vorstand, interessierte sich mehr für die positive Auslese - das »Ausnahmegehirn« - als für die negative Selektion; es glaubte jedenfalls nicht ernsthaft daran, dass »erbliche Erkrankungen und Minderwertigkeiten des Nervensystems auszumerzen« seien. Erst als Hugo Spatz die Verantwortung für das KWI für Hirnforschung übernahm, geriet das »kranke« Gehirn in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Die Wechselwirkungen zwischen Politik und Wissenschaft - also das staatliche Interesse an der wissenschaftlichen Absicherung seiner Rassen- und Eugenikideologie einerseits und andererseits das Bestandsinteresse des Instituts, seine Selbstunterwerfung unter die staatliche Erbgesundheitspolitik und der hybride Wunsch, als »Politikberater« zu fungieren - sind vielfältig und kompliziert, zumal die zivilen Forschungseinrichtungen während des Krieges überformt wurden von parallelen militärischen Strukturen.
Ob Hallervorden seinen Bedarf an Gehirnen bei den Psychiatrien »bestellte«, wie Götz Aly kürzlich in der Berliner Zeitung behauptete, oder dies gar nicht nötig war, weil ein »kollegiales Beziehungsnetz« für entsprechenden Nachschub sorgte, wie Schmuhl vermutet, ist angesichts der Ungeheuerlichkeit des Vorgangs peripher.
Erkenntnisleitender für die aktuellen Diskussionen ist Schmuhls Beobachtung, dass die eugenischen Programme der Nationalsozialisten Rekurs nahmen auf ein weit früher ausgebildetes und nobilitiertes wissenschaftliches Denken, das die qualitative Klassifizierung (»vollwertig«, »minderwertig«) ebenso kultivierte wie den »euphorischen Züchtungsgedanken« und die »szientizistischen Allmachtsphantasien«.
Gentests, so ist zu befürchten, werden zukünftig nicht nur über das Schicksal noch gar nicht Geborener entscheiden, sondern auch über die Lebenden. Die Frage, ob die Stammzellentechnik zur »genetischen Verbesserung des Menschen« nutzbar sei, beantwortet der oben zitierte John Gearhart - und er steht damit keineswegs allein - überaus bejahend, selbst dann, »wenn Leute Kinder wollen, die gut Klavier spielen können.«
Wie ein historischer Treppenwitz allerdings muss es erscheinen, dass die kompromittierte deutsche Humangenetik in den sechziger Jahren - und mit ihr der Pionier Otmar v. Verschuer - ihren Wiederaufstieg ausgerechnet dem westdeutschen Atomprogramm verdankt und in der Folge den Humangenetikern wieder einmal eine dienende Rolle in der Politik zugewiesen wurde: Die Leugnung der Tatsache nämlich, dass Niedrigstrahlung Erbschäden verursacht.
Hinweise:
Doris Kaufmann (Hg.): Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, 2 Bände, Wallstein-Verlag, Göttingen 2000, DM 80,-.
Carola Sachse/Benoit Massin: Biowissenschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten und die Verbrechen des NS-Regimes. Informationen über den gegenwärtigen Wissensstand. (Ergebnisse Bd. 6)
Hans-Walter Schmuhl: Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937-1945. (Ergebnisse Bd. 1)
Diese und weitere Materialien und Ergebnisse der Forschungsgruppe sind zu beziehen über das Forschungsprogramm »Geschichte der KWG im Nationalsozialismus« c/o Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Wilhelmstr. 44, 10117 Berlin, fax 030/22667-333, e-mail: kwg.ns@mpiwg-berlin.mpg.de.
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