Mehr als 200 Prozesstage. Mehr als 200 Tage Schweigen. Seit gut zwei Jahren nun verhandelt das Münchner Oberlandesgericht gegen Beate Zschäpe, die Hauptfigur im Prozess, in dem es um die mehr als zehn Morde im Umfeld des rechtsextremen NSU geht. Seit einem Jahr brodelt es zwischen der Angeklagten und ihren Pflichtverteidigern. Insbesondere gegenüber ihrer Anwältin Anja Sturm zeigt Zschäpe immer heftigere Aversionen. Inzwischen hat sie einen neuen Verteidiger. Die bisherigen Anwälte verteidigen sie auch weiterhin, der Kontakt liegt aber offenbar auf Eis.
Am 18. Juni hat Zschäpe in einem Schreiben an das Gericht diesen Vertrauensverlust erneut bekräftigt. Sie deutete an, sie sei mit der ganzen Verteidigungsstrategie nicht mehr einverstanden und wolle möglicherweise ihr Schweigen brechen; die Anwältin Anja Sturm habe ihr signalisiert, sie werde in diesem Fall das Mandat niederlegen. Obwohl Sturm dies postwendend bestritt, ist die Nachricht seither in der Welt: Beate Zschäpe, die bisher eisern geschwiegen und mit stoischer Miene den Prozess verfolgt hat, bricht ein.
Das Schweigen ist, soweit es sich um politisch motivierte Taten handelt, eine Erregungsfigur in der deutschen Rechtsgeschichte. Das sogenannte Schweigekartell der RAF hat vor Jahren selbst Kanzlerin Angela Merkel auf den Plan gerufen, die „restlose Aufklärung“ forderte, angesichts der ungeheuerlichen Behauptung, die Generalbundesanwaltschaft sei 1977 frühzeitig über den geplanten Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback informiert gewesen.
An diesem Schweigen arbeitete sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit fast 40 Jahre lang vergeblich ab, keine Bitten von Angehörigen, keine Beugehaftdrohungen konnten diese hartnäckige Verweigerung brechen. Beate Zschäpe schien diese Tradition fortzusetzen. Dass, wie im Falle der RAF, der Verfassungsschutz auch im „NSU-Komplex“ nicht nur als Beobachter, sondern auch als Mitspieler fungierte, macht den besonderen politischen Kitzel aus.
Doch warum will Beate Zschäpe dieses Schweigen plötzlich aufgeben, wenn man einmal unterstellt, dass es sich dabei nicht nur um ein taktisches Manöver handelt, um ihre Anwälte loszuwerden? Ein im April bekannt gewordenes psychologisches Gutachten des Münchner Gerichtspsychiaters Norbert Nedopil lieferte erste Anzeichen dafür. Die Angeklagte, so Nedopil, empfinde das Schweigen als „zunehmend belastend“, den Gerichtssaal erlebe sie wie ein „Kriegsgebiet“ und sie fühle sich dort, wie auch im Gefängnis, von Feinden umstellt. Außerdem zeige sie psychosomatische Reaktionen wie Konzentrationsschwäche, Übelkeit und Erbrechen. Der Psychiater bescheinigt ihr ein „narzisstisches“ Persönlichkeitsprofil, in dem sich übersteigertes Selbstbewusstsein mit fehlendem Einfühlungsvermögen paare.
Es ist charakteristisch, dass Zschäpes poröser werdende Abschottung ausschließlich auf eine Persönlichkeitsstörung zurückgeführt wird. Individuelle Defizite sind leicht zu benennen. Aber narzisstische Charaktere gab es durchaus auch im RAF-Personal, ohne dass sie am Schweigegelübde gekratzt hätten. Denn das Schweigen war der letzte Identitätskern der über die Jahrzehnte ideologisch und organisatorisch zerfallenden Gruppe: Unverbrüchlich galt die Regel, dem Staat keinen Genossen auszuliefern.
Nun sind die linke RAF und der rechte NSU, das sei ausdrücklich gesagt, nicht vergleichbar. Aber genau das ist der springende Punkt: Beate Zschäpe steht als politische Einzelkämpferin vor Gericht. Von dem früheren NPD-Funktionär und Mitangeklagten Ralf Wohlleben abgesehen, existiert beispielsweise keine verschworene Häftlingsgruppe, die sich wie die RAF auf eine einverständige Anwaltschaft und ein, wenn auch zunehmend wegbrechendes, politisches Unterstützerfeld verlassen konnte. Der rassistisch-ideologische Zusammenhalt, den Zschäpe mit Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt teilte, findet in der Öffentlichkeit keinerlei Widerhall.
Wenn Beate Zschäpe ihr Schweigen tatsächlich brechen sollte, ist das also auch ein Indiz für eine gewisse gesellschaftliche Resistenz gegenüber rechten Strömungen.
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