Mit "unaufschiebbaren parlamentarischen Angelegenheiten" ließ sich Horst Seehofer am vergangenen Freitag bei den Besuchern des alljährlichen Hauptstadtkongresses Gesundheit in Berlin entschuldigen. So mussten sie denn auf sein Referat verzichten und konnten nur darüber spekulieren, wie viel "Menschlichkeit" der Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz dem zukünftigen Sozialstaat einräumen würde. Noch immer gibt Seehofer gerne den Schatten der Gesundheitsministerin, die nach ihrer Eröffnungsrede nicht mehr gesehen war; "unabkömmlich" waren am Freitag dann wohl beide Ministerkollegen, denn an diesem Tag wurde die größte Steuererhöhung verabschiedet, die das Land bislang gesehen hat.
Unbefriedigende Datenlage
Treffen wird die Mehrwertsteuererhöhung, das ist nichts Neues, besonders diejenigen, die ohnehin schon um ihren Lebensunterhalt zu kämpfen haben. Wenn es künftig darum geht, ob das verfügbare Einkommen eher in die Ernährung, Turnschuhe für die Kinder, das Auto oder in Versicherungsbeiträge gesteckt wird, könnte die Entscheidung schon einmal gegen den Versicherungsschutz fallen. Denn im Unterschied etwa zu Österreich, wo es eine obligatorische Pflichtversicherung gibt, in die alle ohne Ausnahme einzahlen, kennt Deutschland nur eine Versicherungspflicht für abhängig Beschäftigte bis zu einem bestimmten festgesetzten Einkommen. Wer selbstständig ist, wer aufgrund einer Scheidung aus der Familienversicherung fällt oder keine Transferleistungen bezieht, weil er in "Bedarfsgemeinschaft" lebt, muss sich entweder freiwillig versichern oder medizinische Dienstleistungen aus eigener Tasche bezahlen. Wie teuer das unter Umständen werden kann, so Norbert Haas, der das Problem als Unfallchirurg an der Berliner Charité sattsam kennt, machen sich auch diejenigen nicht klar, die über ein recht gutes Einkommen verfügen und denken, sie könnten ihren Arztbesuch auch selbst berappen.
Die steigende Zahl Nichtversicherter ist mittlerweile ein Politikum, das Ulla Schmidt versprochen hat, mit der nächsten Gesundheitsreform zu regeln. Wirklich verlässliche Daten, so Gesundheitsökonom Jürgen Wasem, liegen nicht vor, lediglich der Mikrozensus fragt regelmäßig den Versicherungsstatus der Bevölkerung ab, seit 1995 allerdings nur noch alle vier Jahre: Danach waren 1995 105.000 Menschen ohne Versicherungsschutz, 1999 waren es schon 150.000, um 2003 schließlich auf 188.000 zu steigen. Die Zahlen wären - vergleicht man sie etwa mit den USA, wo ungleich mehr Menschen keine Krankenversicherung haben - nicht so dramatisch, gäbe nicht der rasante Anstieg zu denken und müsste nicht außerdem davon ausgegangen werden, dass Menschen, die sich illegal im Land befinden oder keinen Wohnsitz haben, im Mikrozensus gar nicht erfasst sind. Diese Gruppe gehört jedoch zu den Betroffenen. Die Dunkelziffer dürfte also erheblich höher liegen.
Alarmierend an den Erhebungen ist auch, dass der Anteil nicht versicherter Erwerbspersonen steigt. Betroffen sind - neben sozialen Randgruppen und Menschen mit geringem Einkommen, die unter der Versicherungspflicht liegen - besonders ältere Selbstständige, die die Beiträge für die Privatversicherung nicht mehr aufbringen können und keine Chance haben, in die Gesetzlichen Kassen zurückzukehren oder auch Geschiedene, die versäumt haben, sich nach der Scheidung eigenständig zu versichern. Eine weitere Gruppe stellen Ausländer, und zwar unabhängig davon, ob sie aus EU- oder Nicht-EU-Ländern stammen.
Behandlung nach Versicherungsstatus
Ist schon die Datenlage im Hinblick auf die Betroffenen dürftig, so geben deutsche Statistiken noch weniger Auskunft über die Folgen von Nichtversicherung. Entsprechende Erhebungen in den USA zeigen, dass diese Patienten schlechteren Zugang zu gesundheitlichen Dienstleistungen haben, mit weit reichenden Konsequenzen: Vorsorgemaßnahmen werden nicht wahrgenommen und notwendige oder gar lebenswichtige Behandlungen verschleppt, manchmal mit tödlichen Folgen; das treibt die Kosten in die Höhe, die am Ende die Gesellschaft zu tragen hat: Behandlungskosten, Notfallversorgung oder auch in Form von erhöhten Ansteckungsraten.
In welche Dilemmata das die behandelnden Ärzte insbesondere in der Notfallversorgung bringt, schilderte engagiert und eindrücklich Norbert Haas. An einem Fallbeispiel rechnete er vor, dass eine Klinik, die sich mittlerweile über Fallpauschalen und interne Budgets finanziert, sehr genau überlegen muss, ob und wie sie einen nicht versicherten Patienten versorgt, selbst wenn es sich eher um einen Routinefall handelt. Wäre einem solchen Patienten vor zehn Jahren noch "die beste Medizin" zuteil geworden, wird er heute "nach Versicherungsstatus" behandelt und, wenn er keine Kasse vorweisen kann und auch der Staat nicht einspringt, nur noch "minimal versorgt".
Nach Möglichkeit versucht deshalb jede Klinik, das Risiko auf andere Einrichtungen abzuwälzen. Leidtragende sind die großen Versorgungszentren, die im Notfall behandeln müssen und an anderer Stelle, etwa bei der Stellenbesetzung oder bei der Anschaffung medizinischer Apparaturen einsparen müssen. Das bringt Ärzte, so Haas, in erhebliche ethische Konflikte: Behandelt einer gut, gefährdet er das Budget und unter Umständen die Qualitätsstandards der Klinik; versorgt er nur minimal oder gar nicht, verletzt er seinen ärztlichen Behandlungsauftrag. Wie dramatisch die Lage in einer Großstadt wie Berlin ist, belegen die Zahlen eines kleinen Malteser Behandlungszentrums, das im Notfall nicht versicherte Migranten versorgt: Verzeichnete die Einrichtung im Jahre 2001 noch 215 Fälle, waren es 2005 schon 2.000 Patienten, die dort aufgenommen werden mussten.
Marktflexibilität - flexible Sicherung
Unisono drängen deshalb die Vertreter der Ärzte, der Kassen und die Verbraucherschützer auf eine schnelle Lösung. Die ist aber schon deshalb schwierig, weil jede Betroffenengruppe unterschiedliche Ansätze erfordert. Die einfachste Lösung wäre eine Versicherungspflicht für alle, so Jürgen Wasem, der kein Anhänger der Bürgerversicherung ist, die nach bestimmten Zuordnungsregeln verlangt. Den kleinen Selbstständigen könnte zum Beispiel die Rückkehr in die GKV erleichtert und die PKV gezwungen werden, auf ihre beitragstreibenden Risikozuschläge zu verzichten. Eine weitere Möglichkeit wäre, das Kündigungsrecht der Versicherungen einzuschränken für den Fall, dass die Versicherten mit ihren Zahlungen im Rückstand sind. Wenn der Arbeitsmarkt, brachte es Verbrauchervertreter Thomas Isenberg auf den Punkt, den Menschen immer mehr Flexibilität abverlange und sie deshalb immer wieder den Versicherungsstatus wechseln müssten, dann habe sich auch das Versicherungssystem zu flexibilisieren, um dieser Realität gerecht zu werden.
Diesem Appell verschloss sich auch das Ministerium, vertreten durch Staatssekretär Klaus Theo Schröder, nicht. Doch sein wohlgesetztes Statement, das die aufgerufene "Einzelfall-Dramatik" im juristischen Jargon begrub, machte vor allem deutlich, dass der Gesetzgeber die Solidarversorgung "diskriminierungsfrei nach allen Seiten" zu gestalten und "Negativeffekte" zu verhindern habe. Er meinte damit, dass Beitragsmuffel Morgenluft schnuppern und sich auf Kosten der Allgemeinheit durchschmarotzen könnten. Dies, ließ auch AOK-Vorstand Hans Jürgen Ahrens wissen, fände bei der Mehrheit der gesetzlich Versicherten keine Akzeptanz.
Doch das wohlgemeinte "Schutzziel" der GKV, widersprach Isenberg, sei nicht gegen das Gleichheitsziel auszuspielen. Er plädierte dafür, dass Versicherte einfacher in die Gesetzlichen Kassen aufgenommen beziehungsweise zurückkehren können. Für die Gruppen, die ihre Beiträge nicht entrichten können, wäre eine Fondslösung in Betracht zu ziehen. Die gegenwärtige Situation, in der Patienten nicht nach ihrer Krankheit beurteilt würden, sondern nur noch danach, ob mit ihnen Erlöse zu erwirtschaften seien, sei jedenfalls untragbar.
Die Lösungen, daran ließ die Mehrheit der Diskutanten keinen Zweifel, solle in den "bestehenden Grundsystemen" gesucht werden. Will sagen: Am System der GKV/PKV soll so wenig gerüttelt werden wie an der Einspringpflicht der Kommunen. Die einheitliche Pflichtversicherung für alle, die nicht nur beitragspolitisch, sondern auch sozialpolitisch Sinn machte, rückt damit in immer utopischere Ferne.
In der Zwischenzeit werden die nicht versicherten Patienten "weiter verschoben", wie Chirurg Haas, dem das Problem tagtäglich unterm Messer brennt, sichtlich erregt konstatierte. Es hätte ja schon interessiert, ob sie in Seehofers Vorstellung von "Menschlichkeit im Sozialstaat" einen adäquaten Platz gefunden hätten.
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