Von Zuchtmeistern und Zöglingen

Abstimmung zur Gesundheitsreform Was deutsche Schüler dabei lernen konnten und warum das Vorzeigen der Folterwerkzeuge auf Dauer tödlich ist

Sollte am vergangenen Freitag eine Schulklasse im deutschen Bundesrat gesessen haben, hat sie fürs Leben gelernt: Die Kids hätten erlebt, wie trotz verbaler "Seelenmassage" und massiver Drohungen immerhin sechs Abgeordnete der SPD nur ihren Überzeugungen gefolgt sind und sich gegen den Kanzler und gegen das Gesundheitsverhinderungsgesetz gestellt haben; sie wären Zeugen gewesen, wie diesem Fähnlein beim aufrechten Gang, der unbedingt mutig, möglicherweise trotzig und nur entfernt profilneurotisch zu nennen ist, Spieße übergezogen wurden; sie hätten mitgenommen, dass Standhaftigkeit in dieser Republik, und im Deutschen Bundestag zumal, schwer geahndet und derjenige "feige", "kleinkariert" und gar "charakterlos" gescholten wird, der sich gegen die verordnete Mehrheit auflehnt. Überdies hätten sie begriffen, wie man die Schwäche des Gegners ausnützen kann und dass man abgemahnt wird, wenn man es, wie Angela Merkel, nicht tut: Führungsschwäche. Merke, Schüler: Du sollst Vater und Mutter und den Kanzler ehren und deine Überzeugungen immer und überall dem machtpolitischen Korpsgeist opfern!

Welch ein Vorbild. Der staatsbürgerliche Nachhilfeunterricht, den wir erlebt haben, ist eindrücklich, und nicht zu Unrecht sprechen nicht nur die sogenannten Abtrünnigen von einer schweren Beschädigung der Demokratie. Das dezisionistische "wer nicht für mich ist, ist gegen mich", mit dem der Kanzler seine Mehrheiten beschafft, erinnert an schlimme Zeiten, als - nicht nur in der deutschen Geschichte - die Tribunalisierung von Abweichlern zum politischen Tagesgeschäft gehörte.

Schlimm ist auch, dass über dem ganzen Geschrei von Kanzlermehrheit und Regierungsfähigkeit vergessen wird, worum es überhaupt ging, die Gesundheits"reform". Dieses unwillkommene Geschenk treibt, neben der Zukunft der Rente, alle im Lande um, und dennoch haben es die medialen Verdunklungsbeauftragten geschafft, dass das Lied vom notwendigen Umbau des Sozialstaates so in die Köpfe gebrannt ist, dass keiner mehr fragt, was wenn überhaupt, wie und für wen. Wer es dennoch tut, wird - siehe oben - durchs und am Ende aus dem Dorf getrieben.

Und der Kanzler selbst? Ihm ist das Glück verwehrt, auf einem von fast allen Seiten ausgerollten innenpolitischen Wende-Teppich in die Geschichte einzugehen wie sein Vorgänger. Die sozialpolitische Wendeschleife, auf die er das Land bringen will, ist gefährlich und geeignet, ihn aus der Spur zu heben. Wesentliche sozialdemokratische Essentials sind dabei schon über Bord gegangen; am Ende könnte es der Kanzler selbst sein. Seine Fußtruppen suchen schon jetzt das Weite.

Drückten die innenpolitischen Belange nicht so schwer, bliebe Schröder ja noch das Feld der Außenpolitik, auf dem er seine Wiederwahl ergaunerte. Er operiert auf dieser Bühne auch jetzt taktisch nicht ungeschickt, wie der Auftritt in New York vergangene Woche zeigte. Bevor er ganz im Schatten des omnipräsenten Chirac zu verschwinden droht, läuft er sich vor der UNO frei, zelebriert in der Frage Krieg und Frieden deutsche Souveränität, mit der Weltgemeinschaft im Rücken. So lange Bush, ebenfalls um seine Wiederwahl bangend, um die vereinte tat- und finanzkräftige Schadensbeseitigung buhlen muss, ist dies eine aussichtsreiche und vergleichsweise ungefährliche Arena.

In der Heimat allerdings sind Wahlen derzeit nur innenpolitisch zu gewinnen. Ohne zählbare Punktsiege ist der Niedergang der Koalition kaum mehr aufzuhalten. Doch Zustimmung zur Kanzler-Agenda ist offenbar nur noch durch das Vorzeigen der Folterwerkzeuge und Daumenschrauben einzutreiben. Das aber ist gefährlich und auf Dauer auch für den Zuchtmeister tödlich. Der Ruf zu Wochenbeginn, der Kanzler solle vom Parteivorsitz zurücktreten, ist Symptom für den Disziplinierungsnotstand, den Schröder in der SPD geschaffen hat.

Dass ausgerechnet der kleine Koalitionspartner des Kanzlers getreuste Gefolgschaft ist, mag man als ironische Fußnote des grünen "Umbaus" abtun. Man möchte aber hoffen, dass unter den hundert Abgeordneten, die nach ihrer Zustimmung beim Bundestagspräsidenten einen gequälten persönlichen Widerruf zu Protokoll gaben, die eine oder der andere ist, die beim nächsten Mal aufstehen. Schon, damit sich bei den Schülern dieses Landes nicht der Eindruck verfestigt, das Züchtigungsgeschäft sei in dieser Demokratie wieder zulässig geworden.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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