Vorausschauende Vermeidung

EGMR-Urteil Straßburg hat das Inzesttabu bestätigt. Bei aller Zurückhaltung haben die Richter eine Tür aufgestoßen: Wie schwer wiegt das "eugenische" Argument?

Nimmt man die Weltliteratur einmal als Seismograph, dann gehört das Inzesttabu zu den faszinierendsten Motiven der letzten 3.000 Jahre: Von Sophokles über Plautus, von Boccaccio über Calderón und Shelley, von Goethe über Ibsen bis in die moderne Literatur: Kaum ein literarischer Herkules, der sich nicht von der anrüchigen Geschwisterliebe oder dem tabuisierten Beischlaf zwischen Eltern und Kindern hätte inspirieren lassen. Das aus dem mosaischen Gesetz hervorgegangene kulturgeschichtliche Sediment hatte auch die Mehrheit der Richter am Bundesgerichtshof in Anschlag gebracht, als sie 2008 den in Paragraf 173 des Strafgesetzbuches verbotenen „Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern“ bestätigten und die sich im Inzesttabu ausdrückende Familienordnung bestärkten.

Nun ist das mit der „Familienordnung“ im Zeitalter von Patchworkfamilien und reproduktionstechnologisch gespaltener Mutter- und Vaterschaft so eine Sache: Ist es für ein Kind schlimmer, unmittelbar von seiner Verwandtschaft abzustammen oder überhaupt nicht mehr zu wissen, woher es kommt? Und könnte in Zeiten, wo sich Familien auflösen und Bindungen immer schwächer werden, nicht sogar eine stärkende Wirkung haben, wenn sich Geschwister in anderer als nur erlaubter Weise zusammentun – und sei es, dass sie miteinander ins Bett gehen?

Es verstoße gegen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung, hatte der Anwalt des vor dem Straßburger Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagenden Leipziger Geschwisterpaares argumentiert. Dieses Recht wiege schwerer als Befürchtungen, durch innerfamiliale Liebesverhältnisse die Familientektonik zu erschüttern oder gar „erbkranken“ Nachwuchs zu befördern. Die Straßburger Richter haben sich darauf inhaltlich nicht eingelassen, sondern sich auf die unterschiedliche Rechtslage in den 47 Ländern des Europarats bezogen. Damit bestärkte es seine Haltung, sich insbesondere in ethischen Fragen – zuletzt etwa bei der spektakulären Entscheidung zur Eizellspende in Österreich – aus der nationalen Gesetzgebung herauszuhalten. Damals hatten die Richter ebenfalls die in einem Land vorherrschende ethische Haltung respektiert und es dem Gesetzgeber aufgetragen, mögliche Veränderungen in der Einstellung zu eruieren und möglicherweise in Gesetzesform zu gießen.

Was niemand zugeben will

Bliebe das „eugenische“ Argument abzuwägen, also die Unterstellung, der Gesetzgeber wolle mit dem Inzestverbot „kranke“ Kinder vermeiden. Im verhandelten Fall hat das Paar vier Kinder gezeugt, zwei davon sind behindert. Dieses Risiko, sagen die Kläger, trügen aber auch behinderte Paare oder ältere Frauen, ohne dass ihnen verboten würde, Nachwuchs zu bekommen. Verboten nicht. Aber kritisch beäugt. Denn wozu das ganze vorgeburtliche Risikomanagement – von der Pränataldiagnostik bis zur Präimplantationsdiagnostik – wenn nicht zum Zwecke, genau dies zu verhindern? Insofern deckt sich die Bestätigung des Inzesttabus durchaus mit allen übrigen „eugenischen“ Vermeidungsstrategien. Wer dies dann kritisiert, dem wird vorgeworfen, das Selbstbestimmungsrecht der Paare zu missachten. Vielleicht geht es beim Inzestverbot und bei der angeblichen Respektierung der Selbstbestimmung ja doch um das, was niemand zugeben will: vorausschauende Vermeidung.

Der Ethikratvorsitzende und Jurist Edzard Schmidt-Jortzig hat das Straßburger Urteil übrigens begrüßt und darauf verwiesen, dass „die Selbstbestimmung auf sexuellem Gebiet zwar wichtig, aber nicht grenzenlos“ sei und die Familien möglichst frei gehalten werden müssten von „Konkurrenz-Sexualitäten“. Seine Ratskollegin Kristiane Weber-Hassemer ist die Ehefrau von Winfried Hassemer, der als Vorsitzender des Zweiten Senats 2008 mit seinem Sondervotum Furore machte und seinen Richterkollegen überholte Moralvorstellungen und eine verdeckte eugenische Argumentation vorwarf. Wie immer man zum Inzesttabu stehen mag: Die Straßburger Richter haben bei aller Zurückhaltung eine Tür aufgestoßen. Und die Diskussionen werden auch weiterhin die literarische Phantasie beflügeln.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden