Wachkoma

Patientenwohl Der Jurist Oliver Tolmein wägt Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit von Patienten ab

Wenn das Medieninteresse an Terri Schiavo erloschen ist und sich niemand mehr an die Frau mit den aufgerissenen Augen erinnern wird, bleiben die juristischen Spuren. Terri Schiavo wird ebenso ein "Fall" der amerikanischen Justizgeschichte werden wie Nancy Cruzan; oder Anthony Bland, der in Großbritannien in die Rechtsgeschichte einging; in Deutschland schrieb Frau Sch. als so genannter "Kemptener Fall" Justizgeschichte. Gemeinsam haben sie, dass sie sich im so genannten "vegetative state" - der präzisere englische Begriff für den deutschen Terminus "Wachkoma" - befanden und (wie im Fall Schiavo) darüber gestritten wurde, ob die künstliche Ernährung eingestellt werden soll oder nicht bzw. ob dies rechtens war. Für diese komplizierte juristische Materie bietet die Studie des Juristen Oliver Tolmein Selbstbestimmungsrecht und Einwilligungsfähigkeit einen überaus hilfreichen Einstieg. Tolmein rollt die drei Fälle Cruzan, Bland und Frau Sch. noch einmal auf, analysiert das Aktenmaterial und diskutiert vergleichend die Rechtsfiguren, die zu den jeweils unterschiedlichen Entscheidungen führten. Der Autor unterzieht die jeweiligen Urteile einer kritischen Diskussion und macht abschließend Vorschläge, wie die konkrete Lebenswirklichkeit von Patienten im vegetative state adäquater berücksichtigt werden könnte.

Der Kemptener Fall von Frau Sch. unterscheidet sich von den beiden anderen Fällen insoweit, als dass es sich um einen Strafprozess handelte, der im nachhinein feststellen sollte, ob der Abbruch der künstlichen Ernährung rechtens war oder einen Straftatbestand erfüllte. Das Verfahren endete mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH), das zwar auf Totschlag erkannte, der aber aufgrund der unterstellten "mutmaßlichen Einwilligung" der Patientin gerechtfertigt schien. Der Fall wurde an das Landgericht Kempten zurückverwiesen und im Sinne des BGH entschieden.

Doch war dieser auf das Hörensagen von Zeugen gestützte "mutmaßliche Wille" der Patientin im nachhinein überhaupt rekonstruierbar? Gab es nicht auch gegenteilige Indizien, die auf den Wunsch der Patientin, weiter leben zu wollen, hätten schließen lassen? Nach Analyse der Prozessunterlagen stellt Tolmein den beteiligten Richtern kein gutes Zeugnis aus: Unter der Bearbeitung der Juristen sei die konkrete Situation der Patientin auf ein Bündel medizinischer Daten geschrumpft. Überdies schaffe die Unterstellung der "mutmaßlichen Einwilligung" auf strafrechtlicher Ebene ein "Billigkeitsrecht", das eine problematische normative Wirkung entfalten könnte.

Im Falle der Amerikanerin Nancy Cruzan ging es um die Frage, ob die künstliche Ernährung abgebrochen werden soll, weil das damit erhaltene Leben erhaltenswert scheint oder nicht und um eine Abwägung zweier konkurrierender Rechtsgüter: auf der einen Seite das (durch Dritte vertretene) Recht, den eigenen Tod herbeizuführen (substituted judgement), auf der anderen das grundlegende Prinzip, Leben zu schützen. Die Mehrheit der Richter sprach sich dezidiert gegen eine qualitative Beurteilung von Leben aus. Das änderte allerdings nichts daran, dass bei Nancy Cruzan die künstliche Ernährung am Ende dennoch abgebrochen wurde. Ähnlich verlief auch das Schicksal von Anthony Bland. In seinem Fall versuchten die Richter zu ermitteln, was im Interesse des Patienten (best interest) liege und kamen zu dem Ergebnis, dass die Fortsetzung von Blands Leben für diesen "objektiv" wertlos sei.

Am Beispiel der drei Fälle diskutiert Tolmein ausführlich die ihnen zugrunde liegenden Entscheidungsfiguren: Mutmaßliche Einwilligung, das von Dritten eingelöste Selbstbestimmungsrecht und der "best-interest-Standard" (im deutschen Recht vergleichbar mit dem Kindeswohl). Sein alarmierendes Resümee: Es solle von der Fiktion Abschied genommen werden, Menschen, die im vegetative state leben, könnten und sollten über ihre weitere Behandlung selbst bestimmen oder von Dritten bestimmen lassen. Stattdessen sollten die gegenwärtigen Bedürfnisse des Patienten das entscheidende Kriterium über Weiterführung oder Beendigung der Behandlung sein. Allerdings gibt es, das räumt der Verfasser ein, bislang nur wenig brauchbare Ansätze, wie diese nur nonverbal äußerbaren Bedürfnisse richtig zu interpretieren sind. Gegen Fehlentscheidungen ist wohl auch ein "bedürfnisorientierter Entscheidungsstandard" nicht gefeit.

Oliver Tolmein: Selbstbestimmungsrecht und Einwillungsfähigkeit. Der Abbruch der künstlichen Ernährung bei Patienten im "vegetative state" in rechtsvergleichender Sicht: Der Kemptener Fall und die Verfahren Cruzan und Bland. Mabuse-Verlag 2004.


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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