Was der Gewaltdetektor verrät

Krise und Kritik Der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer lotet interdisziplinäre Chancen zwischen Zeitgeschichte und Soziologie aus

Der Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft ging einher mit ihrem Wunsch nach Selbsterkenntnis. Denn schon die Französische Revolution ließ ahnen, dass die nun aufkommende, freiere Ordnung von tief greifenden Widersprüchen und Krisen begleitet sein würde. Kein Zufall also, dass sich mit ihr eine Disziplin entwickelte, die als eine Art Frühwarnsystem fungieren und anomische Entwicklungen und Konflikte aufspüren und beschreiben sollte. Das Bürgertum gebar seine eigene Krisenmanagerin, die Soziologie.

Dass die Soziologie mittlerweile selbst in der Krise steckt, davon künden der seit den siebziger Jahren unaufhaltsam sinkende Einfluss des Faches auf die Geschicke der Gesellschaft und der Paradigmenwechsel zu den so genannten Lebenswissenschaften (nicht zu verwechseln übrigens mit den Menschenwissenschaften, ein Begriff, den der soziologische Außenseiter Norbert Elias für sein Fach vorgeschlagen hatte). Je krisenanfälliger die bürgerliche Gesellschaft wird, desto hilfloser ihr akademischer Seismograph und desto größer die Anleihen bei den Orientierung versprechenden Nachbardisziplinen.

So verdankt sich die mediale Konjunktur der Zeitgeschichte auch diesem Niedergang der sozialwissenschaftlichen Königsdisziplin. Was die beschreibende und analytische Vorausschau nicht mehr vermag, soll der Blick in die Vergangenheit richten - und je schiefer die historischen Vergleiche im politischen Geschäft, desto dröhnender die öffentliche Resonanz. Im Unterschied zu den abgeschlossenen Perioden der Geschichte ist die Zeitgeschichte allerdings ein noch offenes Terrain und anfällig für Okkupationen aller Art.

Die reflektierteren Zeithistoriker sind sich dieser Instrumentalisierung wohl bewusst - und suchen, wie im Falle des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, interdisziplinäre Schützenhilfe und Kooperationen, wozu das "Jahr der Geisteswissenschaften" - diese Sammeladresse ist selbst schon Indiz der Schwäche - Anlass gibt. In einer größeren Veranstaltungsreihe will das Zentrum im Verbund mit dem Berliner Wissenschaftszentrum nun ausmessen, was die Zeitgeschichte zum Verständnis heutiger Gesellschaften beizusteuern hat und wie sie ihrerseits von den Nachbardisziplinen profitieren kann.

Eröffnet wurde der Zyklus vergangene Woche von Wilhelm Heitmeyer unter dem etwas breitbeinig-programmatischen Titel Die Krise der Gesellschaft, für den der Referent allerdings nicht verantwortlich zeichnen wollte. Dennoch nahm er die Vorlage der Veranstalter auf und vernetzte den Krisenbegriff mit der Kritik am Fach, das nicht mehr fähig oder willens ist, eine angemessene Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft zu leisten: "Wer über Krise sprechen will, darf über die soziologische Wissenschaft nicht schweigen".

Doch was eigentlich bedeutet Krise? Ist sie ein zu überwindendes Übergangsphänomen und wann wird das krisenhaft Hervorgebrachte selbst schon wieder normativ? Sinnfällig wird das Problem im Falle von Dauerarbeitslosigkeit: In den siebziger Jahren, als die strukturelle Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Einzug hielt, galt sie als dramatisches Krisensymptom. Mittlerweile hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Phänomen ein untrennbares Merkmal postindustrieller Gesellschaften ist und Vollbeschäftigung der Vergangenheit angehört. Diese "Normalisierung" ändert allerdings nichts daran, dass der jeweils Betroffene Arbeitslosigkeit nach wie vor als Katastrophe erlebt und sie subjektiv als bestandsgefährdend erfahren wird. Die soziologische Systemtheorie hat diese normativen Anpassungen wissenschaftlich unterfüttert, wodurch das Fach, so Heitmeyer, aller normativen Kritik verlustig gegangen sei.

Woran nun aber misst sich die Krisenanfälligkeit einer Gesellschaft? Émile Durckheim verstand Gesellschaft noch als ein in fragile Arbeitsteilungen eingebettetes Konstrukt. Wenn es die Balance verliert, kommt es zu pathologischen Entwicklungen, Wirtschafts- und Klassenkämpfen. Ein wichtiger Indikator für diese Instabilität war für Durckheim nicht etwa die Armut, sondern die Selbstmordneigung einer Gesellschaft. Diese Homizidrate allerdings nehme, so Heitmeyer, in Europa in den letzten 200 Jahren stetig ab, mit einer deutlichen Ausnahme in den 1860er Jahren - ein Phänomen, das nur Historiker erklären könnten.

Für den Konfliktforscher liegt naturgemäß ein anderer Krisenindikator näher, nämlich die stetig steigende Gewaltkriminalität. Die Krise einer Gesellschaft äußert sich für ihn in ihrer abnehmenden Integrationsqualität, weil das System nicht nur bereit dazu sei, sondern es sogar deren strukturelles Merkmal sei, Menschen frühzeitig auszugrenzen. Die gesellschaftliche Spaltung ist dramatisch nicht in erster Linie, weil es immer mehr Arme und wenige exorbitant Reiche gibt, sondern immer mehr Menschen, die sich perspektivisch aus ihrer schlechten Lebenslage nicht mehr befreien können. Dabei, so Heitmeyer, sei Armut ein zwar "robuster Prädiktor für Gewalt", beeinflusst werde die "Desintegrationsbilanz" aber auch durch weitere Faktoren, zum Beispiel versagte Anerkennung. Insbesondere der Trend von einem "kooperativen" zu einem "desintegrativen Individualismus" fördere die Gewaltentwicklung. Insofern, so die unmissverständliche Botschaft des Soziologen, sei jede "Polemik gegen Umverteilungsprozesse wirklichkeitsfremd".

Unbeantwortet ließ er die Frage, ob der "Gewaltdetektor" nun zur Krise hin ausschlägt oder schon die neuen Normalitätsstandards anzeigt und was dies für die Gesellschaft bedeutet. Der anwesende Doyen der deutschen Soziologie, Sir Ralf Dahrendorf, warnte vor dem inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs und ließ in angelsächsisch gestähltem Pragmatismus wissen, dass von Krise erst die Rede sein könne, wenn eine Gesellschaft mit ihren Instrumenten die Krise nicht mehr zu bewältigen in der Lage sei.

Den Zeitgeschichtlern bleibt aufgegeben, die historischen Krisen genauer zu untersuchen und sie darauf hin zu befragen, was sich daraus lernen lässt. Zu entscheiden, ob diese Lehren auch gezogen werden, bleibt allerdings der Gesellschaft überlassen.

Die Veranstaltungsreihe wird am Donnerstag, 27. 9. mit der Konstanzer Gedächtnisforscherin Aleida Assmann (Die Last der Erinnerung) fortgesetzt. Das vollständige Programm ist unter www.zzf-pdm.de einzusehen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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