Wegweiser ins Nirgendwo

Corona Bei der Berechnung der Impfquote herrscht Chaos. Dabei hat diese Datenerhebung einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf der vierten Welle
Ausgabe 33/2021

Bis vor Kurzem waren Inzidenzzahlen noch der wichtigste Wegweiser der Pandemie. Jetzt hat die baden-württembergische Landesregierung eine Verordnung erlassen, nach der nur noch die 3-G-Regel gilt. Nur wer geimpft, genesen oder getestet ist, darf am öffentlichen Leben teilnehmen. Wobei sich das ändern könnte, wenn sich durchsetzt, was derzeit diskutiert wird, nämlich dass umfassende Freiheit nur durch das Impfen oder die überstandene Krankheit erlangt werden kann. Insofern gewinnt die Impfquote immer größere Bedeutung. Eigentlich sollte man annehmen, dass darüber gültige Aussagen zu machen sind. Doch nun hat ein Report des Robert-Koch-Instituts (RKI) offenbart, dass über den Immunitätsgrad der Bevölkerung widersprüchliche Zahlen kursieren.

Die Meldungen der Impfärzt:innen, die in das Digitale Impfmonitoring (DIM) eingehen, liegen nämlich unter den Erhebungen, die das RKI gleichzeitig im Rahmen von Umfragen in der Bevölkerung ermitteln lässt. Bei der letzten Befragung für den Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte Juli gaben 79 Prozent der 18 – 59-Jährigen an, zumindest einmal geimpft zu sein. Nach dem DIM sind es aber nur 59 Prozent. Eine solche Diskrepanz wäre nur erklärbar, wenn die Befragten entweder unrichtige Angaben gemacht hätten, wovon kaum auszugehen ist, oder ein chaotisches Meldewesen herrscht. „Um einiges höher“, wie das RKI den Unterschied beschreibt, wirkt jedenfalls beschönigend.

Auffällig ist, dass die Impfquoten bei den Zweifachgeimpften und den älteren Menschen bei beiden Messinstrumenten einigermaßen übereinstimmen. Deshalb geht das RKI davon aus, dass die Meldelücke möglicherweise bei den Betriebsärzt:innen zu suchen ist, die nur zur Hälfte an das Meldesystem angeschlossen sind. Warum eigentlich? Da diese erst später mit dem Impfen begonnen haben und für die fragliche Altersgruppe zuständig sind, wäre dies eine mögliche Erklärung. Ein weiterer Grund wäre, dass Impf-gegner:innen eher nicht an solchen Befragungen teilnehmen.

Der Daten-Wirrwarr ist brisant, denn die Impfquote hat entscheidenden Einfluss auf den zu erwartenden Verlauf der vierten Pandemiewelle. Er erinnert an den Zahlenpoker, den es vor einigen Monaten in Bezug auf die verfügbaren Intensivbetten gab. Damals ging es um die künstliche Verknappung des Angebots, um Ausgleichszahlungen von den Krankenkassen zu erhalten. Im Fall der Impfquoten geht es zwar nicht um finanzielle Mitnahmeeffekte, doch erneut wird politisch offenbar mit nicht validen Zahlen operiert. Schon 2020 wurden weitreichende Entscheidungen – Schulschließungen oder Ausgangssperren –nach dem Pi-mal-Daumen-Prinzip gefällt, ohne solide wissenschaftliche Grundlage und mit gravierenden Folgen.

Soweit Expert:innen vorsichtig und fundiert vorgehen wie kürzlich die Ständige Impfkommission bei ihrer abwartenden Impfempfehlung für 12- bis 17-Jährige, werden sie gebasht. Inzwischen hat das Gremium, nachdem aussagekräftigere Studien zur Verfügung stehen, die Vorteile der Impfung stärker gewichtet als ihre Nachteile. Ob es damit doch ein wenig dem politischen Druck nachgegeben hat, steht dahin. Es weist allerdings auch darauf hin, dass die Impfung die Jugendlichen nicht nur vor dem Virus, sondern auch vor den mit der Pandemie „assoziierten psychosozialen Folgeerscheinungen“ schütze. Auch darüber wissen wir immer noch viel zu wenig.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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