Wehretat gegen Soziales: Richtungsstreit in der Ampel-Koalition

Meinung Die Koalition streitet um die Eckpunkte des Haushaltsplans für das Jahr 2024. Dabei droht das Soziale zugunsten der Aufrüstung unter die Räder zu kommen
Ausgabe 09/2023
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verlangt weitere Milliarden
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) verlangt weitere Milliarden

Foto: Imago Images/Photothek

Jedes fünfte Kind lebt unter der Armutsgrenze. Der Skandal in einem reichen Land wie der Bundesrepublik ist so himmelschreiend, dass ein Projekt wie die Kindergrundsicherung eigentlich längst umgesetzt sein müsste. Doch Familienministerin Lisa Paus (Grüne) kommt mit ihrem Gesetzesentwurf nicht zu Potte, und nun stehen sie da, die Anwärter:innen für den 424 Milliarden Euro starken Haushalt im Jahr 2024, und halten die Hand auf. An erster Stelle Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), der über die 100 Milliarden Euro aus dem Schattenhaushalt hinaus weitere zehn Milliarden verlangt, um seine Bundeswehr auszurüsten. Damit tritt er in Konkurrenz zu den Kindern, für die Paus zwölf Milliarden veranschlagt.

Was von den beiden Duzfreunden Christian Lindner (FDP) und Robert Habeck (Grüne) in höflich abgefasster Briefform und per Sie an die Öffentlichkeit gelangt war, klingt nach veritablem Koalitionskrach. Am 15. März sollen die Eckpunkte für den Haushalt 2024 festgeklopft werden, und Wirtschaftsminister Habeck hat sich stellvertretend für die grünen Minister mit dem Finanzchef angelegt und kündigt einen Mehrbedarf von 70 Milliarden Euro an. Lindner verteidigt den Geldsack und die Schuldenbremse gegen die Ansprüche der Kabinettskolleg:innen, denn er fürchtet die steigende Zinslast. Diese ist seit 2021 von vier auf 40 Milliarden Euro gestiegen.

Habeck dagegen deutet in seinem Brief die Möglichkeit von „Einnahmeerweiterungen“, also Steuerhöhungen an, ein No-Go für Lindner und seine FDP. In der SPD wiederum stößt das durchaus auf Sympathie. Ihr Generalsekretär Kevin Kühnert und die Vorsitzende Saskia Esken können sich vorstellen, die „haushälterischen Spielräume“ zu erweitern, etwa in Form einer Vermögensabgabe, die mit dem Koalitionsvertrag eigentlich begraben worden war. Esken setzt sich damit klar von Co-Parteichef Lars Klingbeil ab, der Pistorius unterstützt. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich wiederum zofft sich mit Parteifreund Pistorius über die Ausgabenpolitik der Bundeswehr, da gäbe es „große Mängel“ und zudem sei der Kollege mit dem Sondervermögen „auskömmlich“ bedient. Dieses sei, kontert man aus der Bundeswehr, zu einem Drittel schon verplant.

Die öffentlich ausgetragenen Scharmützel in einer ansonsten im Off verlaufenden Haushaltsdebatte geben einen Vorgeschmack auf die in den kommenden Jahren anstehenden Verteilungskämpfe. Denn die Kindergrundsicherung ist nur das Symbol für eine Sozialpolitik, die von den Belangen und Ansprüchen der Sicherheitspolitik immer stärker unter Druck geraten wird. Wird das Projekt der Familienministerin abgeräumt oder auf endlos verschoben, werden Weichen gestellt, etwa wenn es um die Erhöhung der Bundeszuschüsse für die Sozialkassen geht, um Kitas und Schulen und vieles mehr. Die mittlerweile vielfach beschworene Formel, nach der es keine Freiheit ohne Sicherheit gebe, weist in dieselbe Richtung. Priorisierung ist ein böser Begriff aus der Gesundheitsökonomie.

Allerdings, ließe sich entgegnen, gibt es auch keinen stabilen „Standort“ und keine hochtechnologisch ausgebildeten Soldaten, wenn ein Fünftel der Bevölkerung perspektivisch in die Armutsspirale gerät. Selbst Pistorius scheint das Ausspielen von Kindern und Soldaten mittlerweile etwas peinlich zu werden. Das Soziale dürfe nicht unter die Räder kommen, stellte er kürzlich klar – und meinte damit wohl eher: unter Panzerketten.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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