Welche Ärzte braucht das Land?

Zuteilungsmedizin Die Jahrestagung des Nationalen Ethikrats zwischen ärztlichem Handlungsauftrag und utilitaristischer Ethik

Wer am vergangenen Donnerstag auf der Jahrestagung des Nationalen Ethikrats dem Büffet mit einem Messer zu Leibe rücken wollte, fahndete vergeblich. So hatten die Gäste an diesem Tag jedenfalls keine Gelegenheit, der absehbaren medizinischen Rationierung durch "sozialverträgliches Frühableben" zuvorzukommen. Eugen Münch, Vorstandsvorsitzender der Rhön-Kliniken, hatte vor dem Mittagessen nämlich damit provoziert, dass eine graue-Star-Operation künftig keineswegs mehr "medizinisch notwendig", sondern nur noch als eine "die Lebensqualität erhöhende Maßnahme" anzusehen sei - und, so die unterschwellige Forderung, vom Patienten selbst finanziert werden müsse. Was das alte Ratsmitglied Hans-Jochen Vogel (SPD) zornesrot ans Mikrofon trieb und fragen ließ, ob ärztliche Ethik sich künftig nur noch am ökonomischen Prinzip messen lasse.

Landarzt oder Disease Manager

Welche Ärzte will unsere Gesellschaft, fragten die Ethikräte in diesem Jahr angesichts von politischem Gesundheitsstreit und Ressourcenverknappung. Der Kölner Medizinhistoriker Klaus Bergdolt gab darauf eine eindeutige Antwort: Die Menschen wollen keinen Arzt, der sie unter stetig zunehmendem ökonomischen und zeitlichen Druck zu mehr Leiden verurteilt, ohne dass die Gesellschaft das überhaupt mitbekommt. In den Mittelpunkt stellte er das empathische Arzt-Patienten-Verhältnis, das in dem Maße bedroht sei, wie der naturwissenschaftliche und ökonomische Positivismus den Arzt von seinem ursprünglichen Heilauftrag (caritas) trenne. Die Festsetzung der "Sollzeiten" für ein ärztliches Gespräch oder die Festschreibung von Fallpauschalen sind für Bergdolt ein Indiz für den "neuen deutschen Denkvirus, alles privatwirtschaftlichem Kalkül" zu unterwerfen.

Also zurück zum guten alten Hausarzt? Doch wie soll der aussehen? So ähnlich wie der trotz seiner jüdischen Herkunft hochgeschätzte Posener Armenarzt Marcus Mosse (der Gründungsvater des Mosse-Clans), der Mitte des 19. Jahrhunderts mehr schlecht als recht seine 16-köpfige Familie über Wasser hielt und dessen Nachfahren gerade in den ostdeutschen Landarztpraxen auszusterben drohen? Oder eher wie ihn sich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt vorstellt, einer, der den Patienten durch das spezialisierte medizinische Labyrinth lotst, ein sozial kompetenter, fachlich breit ausgewiesener "Disease Manager" (Bernhard Badura), der die wirtschaftlichen Aspekte der Gesundheitsversorgung nie aus den Augen verliert?

Im modernen Gesundheitssystem, darauf machte für den Ethikrat Christiane Woopen einleitend aufmerksam, treffen unterschiedlichste Anspruchshorizonte aufeinander: Da gibt es den ethisch motivierten ärztichen Behandlungsauftrag, der nur dem Patienten und dem medizinisch Machbaren verpflichtet ist. Dieser trifft wiederum auf die Wünsche des Patienten, der zunehmend als Kunde agiert, angebotsorientiert entscheidet und deshalb fordert, dass der Gesundheitsmarkt möglichst transparent für ihn ist. Der Arzt wiederum ist genötigt, aufzuklären und sein Haftungsrisiko minimal zu halten. Er ist jedoch auch "Rationierungsagent" im medizinischen Zuteilungssystem und "Marionette der verschiedenen Anreizsysteme". Wer, bitte, soll sich in diesem Anspruchswirrwarr noch zurecht finden?

Dabei wird es für den Arzt - vom Patienten ganz zu schweigen - immer schwieriger, darüber zu entscheiden, wann eine neue Therapie sinnvoll ist und ob ein Medikament nützlich ist und wann es am besten zum Einsatz kommt. Ein einzelner Arzt ist auch nicht mehr in der Lage, die Informationen, die tagtäglich die Praxen und Kliniken überfluten, zu überblicken, und die von der Pharmaindustrie angebotene Ärztefortbildung ist an nachvollziehbare Interessen gebunden. Auf diesen Notstand hat die Gesundheitsministerin mit der Gründung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin reagiert, das Regeln für eine "evidenzbasierte Medizin" festlegen soll.

Erfahrung gut, Wissen besser, Kontrolle am besten

Dass "die Erfahrung eine gefährliche Lehrmeisterin" ist und durch "Regelwissen" abgestützt werden sollte, wusste schon Hippokrates. Doch wie implementiert sich externes Wissen im Handlungswissen des Arztes, welches Wissen ist relevant und im konkreten Fall anwendbar? Der Streifzug, den Peter Sawecki, Leiter des neuen Qualitätsinstituts, durch das verfügbare "Regelwissen" unternahm, lässt die Kluft ahnen, die sich zwischen pharmakologischer Forschung, klinischer Expertise und medizinischem Alltag auftut.

Die Unzulänglichkeit des ärztlichen Erfahrungswissens kennt jeder, der ein Leiden von mehreren Ärzten diagnostizieren lässt und mit verschiedenen Diagnosen (und Therapievorschlägen) konfrontiert wird. Doch auch die medizinische Grundlagen- und Anwendungsforschung weist hohe Qualitätsmängel auf. Grundsätzlich, so Sawecki, würden zu wenig Mittel aufgewendet, um die Anwendung von Medikamenten oder Therapien auf konkrete Patientengruppen zu untersuchen. Der Zwang, ein Arzneimittel schnell auf den Markt zu schieben und dort zu behaupten, gefährde Patienten und führe, wie im Vioxx-Fall, bei dem gegenläufige Studien lange Zeit unterdrückt worden waren, sogar zu deren Tod. Das Rheumamedikament Vioxx ist vor kurzem von Markt genommen worden, da es das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen erhöht.

Aber auch Datenmanipulationen - etwa der Ausschluss bestimmter gefährdeter Patientengruppen beim Test von Medikamenten oder die Veränderung des Beobachtungszeitraums - seien an der Tagesordnung und die Zuverlässigkeit medizinischer Informationen vom Arzt kaum zu überprüfen. So ergab eine Studie beispielsweise, dass nur sechs Prozent der Ärzteinformationen überhaupt wissenschaftlich belegt seien. Und so lange die Leitlinien medizinischer Qualität produzentenorientiert formuliert würden, sei auch keine Änderung zu erwarten.

Akzeptanz des "Restrisikos"

Natürlich ruft die Schelte an der Pharmaindustrie regelmäßig jene auf den Plan, die ohne ihre Unterstützung nicht forschen könnten, die jungen Assistenzärzte zum Beispiel, die sich mit der klinischen Erprobung von Pharmaprodukten wissenschaftlich profilieren. Aber welche Instanz kontrolliert diese wohl notwendige Kooperation? Darf es im Falle von Leben und Tod alleine der Wettbewerb sein, der die "Vorfahrtsregeln" bestimmt und am Ende über die medizinische Ethik entscheidet, wie es Münchs utilitaristische Diagnose des Gesundheitssystems nahe legt?

Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, so sein Sekundant Lutz Helmig (Helios-Klinik Fulda), sei nur durch die grundsätzliche Beschränkung des ärztlichen Auftrags zu erreichen. Seine Firmenphilosophie zielte auf die "Mehrung des auftragsbezogenen Nutzen für den Patienten" und die "Akzeptanz eines Restrisikos". Das allerdings, entgegnet Bergdolt, ist in einer privatwirtschaftlich organisierten Klinik höher als in einer Universitätsklinik: Denn obwohl in einer Privatklinik weniger schwer erkrankte Patienten behandelt würden - das Gesamtrisiko insgesamt also geringer sei - liege die Sterblichkeit bei "radikalentlassenen" Patienten (nach Einführung der Fallpauschale) um ein Drittel höher als in öffentlichen Kliniken; und selbst wieder aufgenommene Patienten versterben erheblich häufiger.

Ob dies eher auf deren "Philosophie" zurückzuführen ist oder auf die politische Entscheidung, den Klinikaufenthalt nicht mehr nach Anschauung des konkreten Patienten, sondern nach abstraktem Fallbezug abzurechnen, sei dahingestellt. Dass die Rationierung von Leistungen längst zum medizinischen Alltag gehört, war unter den anwesenden Expertinnen und Experten unumstritten. Ebenso, dass das "medizinisch Notwendige" schon längst nicht mehr das "medizinisch Machbare" ist - zumindest nicht im Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung. Der Rollenkonflikt des Arztes in seiner Eigenschaft als Helfer und Unternehmer (Praxis) oder Manager (Klinik) gegenüber den Wünschen des Patienten ist jedenfalls programmiert. Wer aber entscheidet am Ende über die "Zuteilungsmedizin"? Die Politik? Der Arzt? Der mehr oder weniger bemittelte Patient? Oder einfach die blinden Kräfte des Marktes? Ist die künstliche Hüfte für die Mobilität des 70-Jährigen wirklich vergleichbar mit dem Moped des 16-Jährigen, wie Münch behauptet? Noch provoziert ein solches Statement Widerspruch. Aber wie lange noch?


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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