Wenn Täter mitentscheiden

Runder Tisch Der Runde Tisch, der sexuelle Übergriffe in Institutionen und in der Familie aufhellen sollte, legt seinen Abschlussbericht vor. Opferverbände sind enttäuscht

Skandale, die an den Grundfesten der Gesellschaft rühren, bedürfen besonderer Bearbeitungsformen. Als 2010 die Enthüllungen über sexuelle Übergriffe – zunächst in Institutionen der katholischen Kirche, dann auch in pädagogischen Vorzeigeprojekten wie der Odenwaldschule – nicht abreißen wollte, setzte der Bundestag Christine Bergmann als Beauftragte für die Aufarbeitung des Missbrauchs ein. Sie leitete 18 Monate lang, bis zum 30. November den „Runden Tisch“, der zum einen eine Anlaufstelle für die Opfer sein und zum anderen Vorschläge zu deren Entschädigung und zu Präventionsmaßnahmen machen sollte.

Nun liegt sein Abschlussbericht vor, und die Reaktionen sind geteilt. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigt sich sehr zufrieden mit der Arbeit der Kommission und lobt die „sehr sehr vielen Empfehlungen“. Es solle Hilfen geben, kündigte sie im Deutschlandradio an. Aber der von den Opfern geforderte Entschädigungsfonds, in den alle in den Missbrauch verwickelten Institutionen einzahlen, wird nicht kommen, sondern „es wird in jedem Fall die Verantwortung der Institution geben für das, was bei ihnen von einzelnen Personen an wirklichen Übergriffen, an Verletzungen stattgefunden hat.“

Befürchtung bewahrheitet

Damit bewahrheitet sich, was Opferverbände schon frühzeitig befürchteten: Dass es nämlich den Institutionen überlassen bleibe, welche Maßnahmen sie ergreifen, um sexuelle Gewalttaten zu verhindern und wie sie rückwirkend die Opfer entschädigen. Schon bei Einrichtung des Runden Tisches war kritisiert worden, dass die beteiligten Einrichtungen in großer Zahl eingeladen worden waren, die Opfer zu Beginn aber überhaupt nicht und nach ihrem öffentlichen Protest erst auf Bergmanns nachdrückliche Initiative. Doch wurden sie nur marginal und ohne Stimmrecht berücksichtigt.

Inwieweit es sinnvoll ist, den Opfern Therapieangebote zu machen, statt sie mit ausschließlich mit Geld abzufinden, steht dahin. Soweit dies dazu führt, regulären Angebote für Opfer sexuellen Missbrauchs – dieser Begriff ist umstritten, weil er verharmlosend ist und einen sexuellen „Gebrauch“ von Menschen impliziert – auszuweiten, ist dagegen nichts zu sagen. Gleichzeitig sind die Entschädigungszahlungen aber auch ein Ausdruck dafür, dass das Leid der Betroffenen gesellschaftlich wahr- und ernstgenommen wird und die Institutionen, die die Übergriffe zuließen, deutlich machen, dass sie versagt haben und sich dafür entschuldigen. Ihnen selbst zu überlassen, wie hoch sie die Schuld einschätzen, ist so, als würde man vor Gericht einen Täter über die Höhe seiner Haftstrafe entscheiden lassen.

Selbstverpflichtung zur Selbstanzeige

Problematisch sehen die Opferverbände auch die Selbstverpflichtung der Institutionen zur Selbstanzeige, die den Übergriff zum verfolgbaren Offizialdelikt macht. Natürlich sollen Täter nicht einfach davonkommen, sagen die Vertreter der Opfer; doch bislang sei die Arbeitsweise der Strafverfolgungsbehörden dermaßen opferfeindlich, dass sowieso nur jeder siebte Fall zur Verurteilung komme, berichtet Ursula Enders des Opferschutzverbandes „Zartbitter“. Dagegen würden die Opfer noch einmal „entblößt“ und diskreditiert, weil ihr Name öffentlich werde. Sie schlägt vor, die Opfer zunächst zu stabilisieren und bessere Regeln im Umgang von sexuellem Missbrauch in Schulen einzuführen – zum Beispiel die Einsetzung von Ansprechpartnern.

Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hat angekündigt, zumindest die viel zu kurze Verjährungsfrist im Zivilrecht, wo eine sexuelle Gewalttat nach schon drei Jahren nicht mehr verfolgt werden kann, auf 30 Jahre zu erhöhen. Kompromissloseren Opfervertretern ist auch das zu wenig. Sie fordern die vollständige Aufhebung der Verjährungsfrist auch im Strafrecht, um die Opfer vom Druck zu entlasten, in einem vorgegebenen Zeitraum Klage zu erheben. Nimmt man die Auswertung der Hotline nicht nur des Runden Tisches, sondern auch der Deutschen Bischofskonferenz als Indiz, ist diese Forderung berechtigt: Dort haben sich nämlich viele Anrufer erst nach 30 Jahren und mehr über das geäußert, was ihnen in der Vergangenheit angetan worden ist.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden