Wenn Tugend zur Pflicht wird

Chronische Unsicherheit Von den Produktionsmitteln abgeschnitten, sind die Menschen gezwungen, ihre individuelle Existenz zu versichern - doch was passiert, wenn das Versicherungssystem dazu nicht mehr in der Lage ist und die Familie als Hilfstruppe aufgerufen wird?

Kürzlich begegnete mir in einer tschechischen Kleinstadt ein Fuchs. Kein richtiger natürlich, doch er entstammte der schlauen Spezies, die in der schwäbischen Provinz beheimatet ist. Obwohl des Tschechischen nicht mächtig, bin ich sicher, dass er ähnliches verspricht wie in seinem Stammland: Auf diese Steine können Sie bauen! Generationen von Häuslebauer, ob nun in Schwaben oder in der übrigen Republik beheimatet, wissen was gemeint ist: in unmittelbarstem Sinne des Wortes "Erdung". Ein beständiges Dach über dem Kopf, das Haus, das eine Schutzburg ist. In den wechselhaften Zeitläuften ein Stück Sicherheit. Und ein deutscher Exportschlager außerdem: An deutschem Sparwesen soll Europa genesen.

Ich kann nicht einschätzen, in welchem Ausmaß die schwäbische Bausparkasse am Bauboom in Tschechien beteiligt ist. Doch der Aufschrei, der durch das Land ging, als im Zuge der Steuerreform die Eigenheimzulage - das erfolgreichste Subventionspflaster für die "kleinen Leute" nach dem Zweiten Weltkrieg - zur Disposition stand, ist noch gut in Erinnerung. Deshalb laufen bei den Serviceleitungen der Agentur für Arbeit derzeit auch die Telefone heiß: Gehört unser Eigenheim in die Dispositionsmasse von Hartz IV? Müssen wir es verscherbeln oder Teile untervermieten, bevor wir in den Genuss einer reell erworbenen Versicherungsleistung kommen?

Was das Haus betrifft, versuchen die Verantwortlichen zu beruhigen, auch wenn die Bestimmungen bei genauerer Betrachtung höchst schwammig sind: denn was ist schon ein "angemessen großer" Wohnraum wenn man bedenkt, dass es manche für selbstverständlich halten, in den Zimmerfluchten von Luxusvillen zu residieren, während andere genötigt werden, in die maroden Waben der ursprünglich abrissgeweihten Platte (nicht nur in Ostdeutschland) zu ziehen, weil sonst der kommunale Wohnzuschuss nicht reichen wird?

Lassen wir es also vorerst beim noch sicheren Häusle. Es ist sozusagen die letzte "Unterlage", die Nicht-Eigentümern, wenn sie ein bisschen Geld und Glück hatten, verblieben ist. Denn wer kann schon eine Fabrik oder einen Hof und Grundbesitz sein Eigen nennen? Die generationenüberspannende Sicherheit der Familie, die auf einer sachlichen Grundlage ruhte und Stabilität garantierte, ist längst passé. Seitdem nur noch das individuelle Leben die zu kalkulierende Zeiteinheit geworden ist, setzt die bürgerliche Gesellschaft ziemlich viel daran, die periodisch auftretenden Unsicherheiten zu überbrücken mit einem spezifischen Instrument: der Versicherung. Nicht nur Sachwerte, vielmehr das Risiko bürgerlicher Existenz selbst bedarf sichernder Entlastung für die Wechselfälle des Lebens: Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Alter.

Der Versicherungsgedanke, darauf hat Emil Lederer, ein kluger und weitgehend vergessener Pionier der modernen Sozialpsycholgie, schon vor dem Ersten Weltkrieg hingewiesen, ist die Reaktion auf den "dürftigen Besitzstand" der Masse, die gezwungen ist, sich im "Provisorium" als der "modernen Existenzform" einzurichten. Das "Streben nach Versicherung" sei ein charakteristisches Phänomen des "sozialpsychologischen Habitus der Gegenwart" (so der Titel seiner Analyse; möglicherweise hat ja Bourdieu bei Lederer begriffliche Anleihen gemacht) und gleichzeitig der Versuch, die verlorene "Schwere und Substanz" der Existenz zu ersetzen, "das individuelle Leben wieder, auch subjektiv, zu einer Einheitsperiode zu machen".

Obwohl Lederers vor 90 Jahren angestellten (aber erst 1919 veröffentlichten) Überlegungen einen völlig anderen Ausgangspunkt hatten - ihm ging es um die von ihm letztlich verneinte Frage, ob die Versicherung ein geeignetes Instrument sei, die Masse an den Produktionsmitteln teilhaben zu lassen -, ist seine Betrachtung auch heute noch aufschlussreich. Was er als durch die ökonomischen Verhältnisse gewaltsam aufgezwungenes, in immer kürzeren Intervallen wechselndes "Provisorium" beschreibt, haben Richard Sennett und andere für die modernen Seinslagen untersucht. Der "Drift", das ziellose, zeit- und ortentfremdete Dahintreiben des "flexiblen Menschen" produziert in wachsendem Maße Bedürfnisse nach "Andockpunkten", Rückversicherungen und Gewissheiten, die in der Religion, der Familie, auf kommunaler Ebene oder anderswo gesucht werden. Wobei die Situation paradox ist: je stärker der Wunsch nach Sicherheit in einer immer unberechenbarer werdenden und chaotisch empfundenen Arbeitswelt wird, desto stärker erodieren die sie vermittelnden Sicherungsinstitutionen.

Für die Versicherung hat Lederer bereits prognostiziert, dass die "Zerbrechung der (Lebens)Kontinuität" nur unvollkommen durch Sparen und Versichern aufgefangen werden würde, um den "immer schwächer werdenden Einkommensstrom doch irgendwie zu erhalten". Für das Lebensgefühl der kleinbürgerlichen Schichten konstatiert er bereits den "Zug zum Surrogat", zum selbst-versichernden Ersatz: sei es in Form der Versicherung oder eben in der großstädtischen Zerstreuung - eine für die Vorkriegszeit bemerkenswerte Beobachtung.

Was er nicht voraussehen konnte, war die durch die Inflation massenhafte Entwertung der versicherungsabhängigen Renten. Die "Flucht in die Sachwerte" nach 1923 war die unmittelbare Reaktion darauf. Der Pflichtversicherung konnten sich die damaligen Beschäftigten nicht entziehen. An der in der Weimarer Republik als deren dritte Säule eingerichteten Arbeitslosenversicherung scheiterte die Große Koalition, der das Notverordungsregime Brünings folgte. Die Arbeitslosen mussten einen dramatischen Abbau der "Stütze" und eine dem heutigen Hartz IV-Projekt vergleichbare Aussteuerung hinnehmen, und nach der Währungsreform hatten die "kleinen Leute" dann noch einmal den Verfall der Rentenwerte zu verkraften.

Wenn jedoch die Versicherung keine wirkliche Sicherung der Lebensrisiken mehr ist, wenn man vom als "Arbeitslosenhilfe II" titulierten Almosen nicht leben kann und die Rente in absehbarer Zeit nicht mehr ausreichen wird, um ein auskömmliches Alter zu fristen; wenn man im Krankenhaus Angst haben muss, als Patient zweiter Klasse bedient zu werden oder im Pflegeheim der Verwahrlosung anheimzufallen; und wenn am Ende gar die losen verwandtschaftlichen Bindungen aufgerufen werden, "Verantwortung" zu übernehmen, dann ist die Institution Versicherung obsolet geworden. Ein Indiz für den realen und mentalen Verfall der Valuta Versicherung ist, dass die Riester-Rente insbesondere bei Frauen wenig Resonanz findet und immer mehr Menschen Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen, weil staatliche und private Versicherungsleistungen keine ausreichenden Einkommen mehr garantieren.

Mehrere Experten meldeten deshalb vergangene Woche sogar verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Folgen von Hartz IV an. Leiste die gesetzliche Pflichtversicherung nämlich weniger Leistung als eine vergleichbare private, so sei es nicht mehr zu rechtfertigen, entsprechende Zwangsbeiträge zu erheben. Ob langfristig allerdings Privatversicherungen die existentiellen Unwägbarkeiten und Turbulenzen in einer globalisierten Gesellschaft abzusichern vermögen, darf nachdrücklich bezweifelt werden.

Doch glücklicherweise gibt es ja noch immer die Familie! Die wird als Hilfstruppe immer dann herangezogen, wenn der staatliche Sozialkahn ins Trudeln gerät. Auch dies ist paradox, weil die "Produktionseinheit Familie" längst verschwunden und die fragile "Erziehungseinheit Familie" selbst einem beständigen Erosionsprozess ausgesetzt und auf eben die Versicherung angewiesen wäre, die nun zur Sicherung offenbar nicht mehr taugt. Erinnert sei immerhin daran, dass der derzeit wieder kultivierte Begriff der Subsidiarität eigentlich aus der Militärsprache stammt und das Hilfsaufgebot für die vorderen Linien meint. Übersetzt in den sozialpolitischen Alltag von Hartz IV müssen die nachrückenden ›Truppenteile‹ - Lebenspartner, Kinder, Eltern und Schwiegereltern und überhaupt alle, die in der mit "Bedarfsgemeinschaft" hässlich umschriebenen Häuslichkeit leben - die in Not gekommene ›Phalanx‹ (nehmen wir an, den erwerbslos gewordenen Familienernährer) unterstützen. Die Rente der Oma zählt ebenso dazu, wie der Sparstrumpf der Kiddies, wenn die das Sparbuch nicht vorsichtshalber auf die außerhalb lebende Tante überschrieben haben.

Gerade an dieser als zutiefst ungerecht empfundenen Regelung entfacht sich der Volkszorn: Wie soll man Kinder zu ökonomischen, verantwortlich wirtschaftenden Subjekten erziehen, wenn ihre mehr oder minder hart ersparten Euros am Ende für den eigenen Unterhalt herangezogen werden, den eigentlich die Eltern - und wenn diese dazu nicht in der Lage sind, der Staat - aufzubringen hätten? Wie soll ihnen der Vorsorgegedanke vermittelt werden, wenn sie erleben müssen, dass das für die Ausbildung, den Auslandsaufenthalt und meinetwegen auch den Führerschein zusammengetragene Geld mal eben so den Familienkochtopf füllt oder dass Vati seine Lebensversicherung auflösen soll, bevor er Arbeitslosenhilfe erhält? Wäre es da nicht konsequent, den Nachwuchs von der Schule zu nehmen und ihn in Ein-Euro-Jobs zu stecken wie weiland die armen Kinder in die englischen Bergwerke?

Einmal abgesehen davon, dass die Einforderung familialer Unterstützung Singles bei den staatlichen Transferleistungen bevorzugen würde, während ohnehin belastete Solidargemeinschaften bestraft werden dafür, dass sie sich selbst hilft, wird durch die "verpflichtende Schenkung" auch das fragile System freiwilligen Gebens und Nehmens gestört. Die Tugenden der misericordia (Mitleid) und der beneficentia (der gerechten Großzügigkeit), darauf hat der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre hingewiesen, sind im Sinne anerkannter Abhängigkeit Pflicht; ein staatliches Enteignungssystem, durch das kommunitaristische Tugenden zur verpflichtenden Institution werden, ist damit nicht vereinbar. "Es wäre verfehlt, die Politik des Staates mit den Werten und den Partizipationsformen lokaler Gemeinschaften anreichern zu wollen."

Was bleibt, ist das Gefühl der Ungeschütztheit vor den Kapriolen eines unberechenbaren Arbeitsmarktes, des Ausgeliefertseins an obwaltende Behörden und der zutiefst empfundenen Ungerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten. Wäre Hartz IV nur ein Vermittlungsproblem, wie uns professorale Gutverdiener (wie kürzlich gerade wieder einmal Heiner Keupp in der Süddeutschen Zeitung) weismachen wollen, wäre das Ganze kein Problem: Dann benötigte die Politik eben einen schlauen Fuchs, der den Leuten beibrächte, dass selbst auf brüchigen Steinen noch solide gebaut werden kann. Was jedoch, wenn ein schlaues Füchschen die Szene erobert und die Leute animiert, die Steine aufzuheben und damit zu werfen?


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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