Wer essen kann, wird auch arbeiten

SOZIALBERICHT Die Bundesregierung verschenkt eine Gelegenheit, Existenzsicherung von Erwerbsarbeit abzukoppeln

Alles soll so bleiben, wie es ist, lautet ein TV-Werbespot, der wunschloses Glück an Konsumfreuden bindet. Diesem Motto folgte offenbar auch das Südwest-Wahlvolk am vergangenen Sonntag, als es seine wirtschaftspotenten Ministerpräsidenten bestätigte. Es sei schwer, bekannte die Teufel-Herausforderin Ute Vogt, in einem Land Wechselstimmung zu erzeugen, wo es den Leuten gut gehe.

Im "Ländle" mag es "den Leuten" tatsächlich besser gehen als etwa in Berlin, wo die Boulevardpresse am Montag nach der Wahl schon wieder den städtischen Bankrott orakelte. Zumindest sprechen hierfür die ökonomischen Eckdaten und der Streit um den Länderfinanzausgleich, in den die neuen Länder und die Stadtstaaten ihre Konkursmasse einbrachten und der Süden das Eigenlob, einfach alles zu können - vor allem zu arbeiten. Denn Erwerbsarbeit, daran haben drei Jahrzehnte Diskussion über das absehbare "Ende der Arbeitsgesellschaft" nichts geändert, gilt noch immer als die einzig mögliche Grundlage der Existenzsicherung: Wer arbeitet, hat zu essen, und wer essen will, muss sich zumindest arbeitsbereit zeigen. Dieser Logik entspricht, dass nicht Erwerbstätige weniger zu essen haben und, auf gut deutsch, arm sind. Dieses Prinzip grundiert alle staatlichen Transferleistungen einschließlich das so genannte "Abstandsgebot" zwischen Lohn und Sozialhilfe.

Der demnächst dem Kabinett vorliegende "Armuts- und Reichtumsbericht" der Bundesregierung könnte geeignet sein, an dieser Vorstellung zu rütteln. Ein Politikum ist der Bericht schon deshalb, weil zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik regierungsamtlich festgestellt wird, dass sich dieses Land immer mehr Armut leistet und gleichzeitig immer mehr Reiche toleriert. Die Unterschiede sind mittlerweile so gravierend, dass kaum anders als von eklatanter sozialer Ungleichheit gesprochen werden kann. Denn wer mag es schon als gerecht empfinden, dass (bezogen auf das Jahr 1998) fast jeder fünfte Bundesbürger über weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Bruttoeinkommens verfügen konnte, während die Zahl der Einkommensreichen - also derjenigen, die weit mehr als das Doppelte des Durchschnitteinkommens verdienen - auf mehr als zwei Millionen Haushalte anstieg und sich diese knapp sieben Prozent Privilegierten ein Viertel des Gesamteinkommens teilen? Wer mag es hinnehmen, dass Kinder ausdrücklich als "Verarmungsrisiko" eingestuft werden oder ausländische BürgerInnen drei mal häufiger zum Sozialamt gehen müssen als deutsche?

Soweit sich der Bericht auf Einkommensarmut bezieht, birgt das Zahlenwerk viel Bekanntes: Die Armutsquote alter Menschen ist in etwa so hoch wie die von Frauen im zentralen Erwerbsalter; Arbeitslosenhaushalte, Alleinerziehende und Haushalte mit mehr als einem Kind und nur einem Verdienst sind deutlicher von Armut bedroht als andere Haushaltstypen - hier deutet sich übrigens das Ende der klassischen Versorgungsehe an. Die Einkommensverteilung in den neuen Bundesländern ist bemerkenswerterweise noch immer erheblich gleichmäßiger als im Westen, wenn auch auf niedrigerem Niveau. Eklatant sind die Ost-West-Unterschiede beim Vermögenseinkommen: Es betrug 1998 in den alten Bundesländern rund 18.300 Mark, in den neuen nicht einmal die Hälfte.

Doch auch wer arbeitet, hat nicht immer genug zu essen, zumindest im übertragenen Sinne, denn Armut definiert sich nach den verfügbaren materiellen, kulturellen und sozialen Ressourcen, und der Regierungsbericht dokumentiert neben der Einkommensarmut beispielsweise auch gravierende Bildungsdefizite. Das weite Feld der "prekären Wohlstandspositionen", also der Einkommen, die unterhalb der 75-Prozent-Grenze liegen, rekrutiert sich aus Erwerbstätigen, die sich zu Niedriglöhnen verdingen, und es deutet sich an, dass diese Schicht zunimmt: Nicht nur ist die Hälfte aller als "arm" definierten Personen erwerbstätig, sondern zu jeder einkommensarmen Person, so der Bericht, muss eine armutsgefährdete Person hinzugezählt werden.

Nicht jede Erwerbstätigkeit, so wäre zu schließen, schützt also vor Armut. Dies gilt vor allem, wenn Erwerbsarbeit im klassischen Sinn des Normalarbeitsverhältnisses an den Rand rückt und zumindest für bestimmte Lebensphasen damit gerechnet werden muss, aus dem Arbeitsmarkt "herauszufallen". Von dieser Einsicht und allen Überlegungen, die sich daran knüpfen könnten, ist der Bericht der Bundesregierung allerdings unbeleckt, denn er geht von einer "Arbeitsgesellschaft" aus, in der "Bürgerinnen und Bürgern Zugang zur Erwerbsarbeit" zu sichern sei durch "die Stärkung der Wachstums- und Beschäftigungsdynamik".

Eine derart "bekämpfte Armut" ignoriert nicht nur die Tatsache, dass der Arbeitsmarkt der Zukunft kaum ausreichend bezahlte Beschäftigung anbieten wird; sie operiert auch nach wie vor sozialdisziplinierend, indem sie Sozialleistungen an die generelle Arbeitsbereitschaft bindet. Die seit den achtziger Jahren auch von Parteien erarbeiteten Grundsicherungsmodelle, die darauf abzielten, Arbeit und Essen zu entkoppeln und eine von Erwerbsarbeit unabhängige Existenz zu garantieren, sind jedenfalls in weite Ferne gerückt. Statt ein Signal zu setzen und radikal mit dem alten Besitzstandsdenken zu brechen, hat beispielsweise die Renten"reform" lediglich ein Verschiebesystem zwischen Alt und Jung auf den Weg gebracht. Altersarmut, auch das zeichnet sich schon jetzt ab, wird ein zentrales Zukunftsproblem werden und keineswegs mehr "nur" weiblich sein.

Die vielfältigen Armutsbiografien, die sich hinter dem dürren Zahlenwerk verbergen, lassen sich nur erahnen und legen beredtes Zeugnis ab über den Grad gesellschaftlicher Atomisierung. Wie lebt es sich als Kind in einer fatal überschuldeten Familie, als alter Mensch abgeschnitten vom gesellschaftlichen Leben oder als alkoholkranker Obdachloser? Die ordnungspolitische Differenzierung in "würdige" und "unwürdige" Arme ist bis heute virulent. Sie misst sich an der individuellen Bemühung, um jeden Preis der Armut zu entkommen, und sei es nur in der Weise, von der Sozialhilfe in den Niedriglohnsektor zu wechseln. Zu "Konstrukteuren ihrer eigenen Lebenswelt" erklärt, bleibt den Betroffenen, sich für ihr Schicksal zu verantworten und es zu bewältigen. Der Staat zieht sich auf die administrative Bewältigung der Armut zurück, statt sich der Einsicht zu öffnen, dass, wer zu essen hat, auch arbeitet und dies in einem weiter gefassten, selbstbestimmten und gesellschaftlich nützlichen Sinne.

Es muss einen Hunger geben in der Welt, einen Hunger nicht nur nach Essen und Trinken, sondern nach einem ganz anderen Ding, schrieb Wilhelm Raabe 1864 sinngemäß in seinem - übrigens in Stuttgart entstandenen - Roman Der Hungerpastor. Dieses "ganz andere Ding" zu befriedigen, muss der Mensch Essen und Trinken haben. Aber eben nur so viel, dass das gute Leben ihn nicht bequem werden und alles so bleiben lässt, wie es ist.

Für Sie oder Ihren Hasen

6 Monate den Freitag mit Oster-Rabatt schenken und Wunschprämie aussuchen

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden